Jesus steigt herab

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Jesus steigt herab

Liebe Gemeinde,
bestimmt haben Sie sich schon gefragt, warum hier vorne eine Leiter steht. Vielleicht hat unser Küster vergessen, diese nach dem Abschmücken des Weihnachtsbaumes wegzuräumen? Nein, diese Leiter soll heute Morgen ein Vergleich für die Predigt sein. Wir Menschen wollen aufsteigen. Der Weg soll nach oben führen. Sprosse um Sprosse muss es aufwärtsgehen.
Ein Beispiel dafür sind die Tarifverhandlungen, die jetzt gerade wieder in vollem Gang sind. Jahr für Jahr werden die Gehälter erhöht, Stufe um Stufe kommt mehr Geld aufs Konto. So sind wir es gewöhnt, so ist es immer gewesen. Stillstand bedeutet Rückschritt, es muss aufwärts gehen. Und wenn die Konjunkturforscher sagen: »Das Wirtschaftswachstum geht zurück«, dann bekommen wir es mit der Angst zu tun, dann machen wir uns Sorgen. Denn wir haben diese Leiter längst verinnerlicht. Wir können uns gar nichts anderes mehr vorstellen.
Von Kindesbeinen an schauen wir immer hinauf, zur nächsten Sprosse, zum nächsten Ziel. Den Kindern im Kindergarten wird gesagt: »Bald kommst du in die Schule!« Ein paar Jahre danach geht es weiter hinauf: Hauptschule, Realschule, Gymnasium.
Und später wird gefragt: Welche Aufstiegschancen habe ich im Beruf? Wo kann ich möglichst weit nach oben kommen? Es ist gut, wenn Menschen etwas leisten wollen. Wir brauchen Männer und Frauen, die Verantwortung übernehmen.
Doch solche Leitern gibt es nicht nur in der Arbeitswelt, sondern auch in der Freizeit. Wenn einer Fußball spielt, dann wird er gefragt: Kreisliga oder Bezirksliga?
Ein Kleintierzüchter zeigt stolz die Pokale, die er mit seinen Hasen und Hühnern gewonnen hat. Und wenn beim Nachbar ein neuer Wagen vor der Garage steht, dann machen manche sich schnell auf den Weg zum Autohändler. Immer wieder geht es darum: Auf welcher Stufe stehen wir? Wie weit bin ich schon nach oben gekommen?
Aber wenn es dann doch einmal abwärtsgeht – das tut weh! Vielleicht ist es nur ein kleiner Schritt zurück – doch das wurmt uns gewaltig. Denn wir sind in die andere Richtung programmiert. Wir wollen den Erfolg – einige sogar um jeden Preis. Und manchmal frage ich mich: Sind wir überhaupt noch schwindelfrei? Damit ist keine Höhenangst gemeint, die ab einem Meter über dem Boden auftritt. Sondern »schwindelfrei« bedeutet: Schaffen wir es, auf dieser Leiter ehrlich zu bleiben?
Oder greifen wir in die Trickkiste? Ist die Unwahrheit zum eigenen Vorteil schon ganz normal? Kommt nicht oft zu den Zehn Geboten ein elftes hinzu: »Du sollst dich nicht erwischen lassen?« Sind wir noch schwindelfrei? Viele schwindeln sogar sich selbst an. Sie tun so, als ob alles in Ordnung wäre – doch in Wirklichkeit halten sie sich nur noch krampfhaft fest, die Leiter schwankt hin und her, einen sicheren Stand gibt es längst nicht mehr. Haben wir dann den Mut zum Rückschritt? Können wir umkehren? Oder ist das Hoch-Hinaus schon zum einzigen Lebensziel geworden?
Einer steigt nicht auf, sondern ab. Er geht auf dieser Leiter den umgekehrten Weg. Er gibt seinen Spitzenplatz auf, er kommt nach unten: Jesus, der Sohn Gottes. Vor etwas mehr als zwei Wochen haben wir Weihnachten gefeiert, das Fest seiner Geburt.
Statt in einem Palast kam er im Stall zur Welt. An seiner Krippe stehen einfache Hirten, aber auch die Männer, die man später die Heiligen Drei Könige nannte. Sie bringen kostbare Geschenke: Gold, Weihrauch und Myrrhe. Und mancher denkt: Jetzt geht es los! Jetzt kommt sein wahres Wesen als Sohn Gottes zum Vorschein, jetzt offenbart sich seine Macht und Herrlichkeit. Doch die Weisen aus dem Morgenland reisen wieder ab. Josef und Maria gehen zurück nach Nazareth.
Jesus wächst auf als Kind einfacher Leute, als Sohn eines Zimmermanns. Wann beginnt sein Aufstieg? Wann erklimmt er die erste Sprosse der Leiter, damit die Welt endlich sieht, wer er ist? Weihnachten ist vorbei – wie geht es weiter?
Der Predigttext für diesen Sonntag aus Mt 3 berichtet vom ersten öffentlichen Auftreten Jesu. Aus dem Kind in der Krippe ist ein Mann von etwa 30 Jahren geworden.
Matthäus 3, 13-17
13 Auch Jesus kam aus Galiläa an den Jordan zu Johannes, um sich von ihm taufen zu lassen.
14 Johannes wehrte sich entschieden dagegen: »Ich hätte es nötig, mich von dir taufen zu lassen, und du kommst zu mir?«
15 Aber Jesus gab ihm zur Antwort: »Lass es für diesmal geschehen! Es ist richtig so, denn wir sollen alles erfüllen, was Gottes Gerechtigkeit fordert.« Da willigte Johannes ein.
16 In dem Augenblick, als Jesus nach seiner Taufe aus dem Wasser stieg, öffnete sich über ihm der Himmel, und er sah den Geist Gottes wie eine Taube auf sich herabkommen.
17 Und aus dem Himmel sprach eine Stimme: »Dies ist mein geliebter Sohn, an ihm habe ich Freude.«
Die Menschen strömen an den Jordan zu Johannes dem Täufer. Er lebt am Rand der Wüste, er trägt einen Mantel aus Kamelhaaren, er ernährt sich von Heuschrecken und wildem Honig. Und er predigt Umkehr und Buße. Er ruft den Menschen zu: »Ihr seid Sünder! Gott wird euch verurteilen! Ändert euer Leben, um dem Zorngericht zu entgehen!«
Und diejenigen, die hinunter an den Jordan kommen, haben Dreck am Stecken. Die Reichen und die Vornehmen, die gehen nach Jerusalem in den Tempel. Dort kaufen sie für teures Geld ein Opfertier und sind ihre Sünden los. Doch die Armen können sich ein solches Sühneopfer nicht leisten. Und dann gibt es einige, die sich schämen, den strengen Priestern vor die Augen zu treten: die Zöllner, die ihre Mitmenschen betrügen, die Ehebrecherinnen, die mit anderen Männern zusammenleben, die Soldaten, die Dienst für die verhassten Römer tun.
Sie alle kommen hinunter an den Jordan, um sich taufen zu lassen. Sie hoffen: Hier finden wir den Weg zurück zu Gott. Sie steigen hinein in das schlammig-braune Wasser, sie lassen sich von Johannes tief untertauchen. Und sie hoffen: So werden unsere Sünden abgewaschen. So entgehen wir der Strafe Gottes. So können wir einen neuen Anfang wagen. Die Hohepriester und Schriftgelehrten betrachten das Geschehen misstrauisch. Sie sind sich einig: Ein anständiger Mensch hat das nicht nötig. Wer von Jerusalem hinunter an den Jordan geht, der gehört zu den Heruntergekommenen.
Jesus steigt hinunter. Hinunter an den Jordan zu denen, die getauft werden wollen. Er stellt sich zu denen, auf die kein gutes Licht fällt. Zwischen einen Zöllner und eine grell geschminkte Frau. Zu denen, die den frommen Pharisäern nicht das Wasser reichen können. Und Johannes der Täufer spürt sofort: Dieser Jesus passt nicht hierher! Der ist anders als wir! Johannes weiß in diesem Moment: Das ist der, dessen Kommen ich ankündigen soll! Das ist der, der Gottes Werk vollendet! Jetzt bricht das Gericht an, jetzt werden die Sünder bestraft! Für Johannes ist es undenkbar, dass dieser Jesus mit den anderen in den Jordan steigt. Ihm ist klar: Eigentlich sollte dieser Jesus mich taufen! Ich müsste vor ihm versinken und mich untertauchen lassen! Doch Jesus schüttelt den Kopf und sagt: »Lass es geschehen.«
Der Jordan, der in das Tote Meer fließt, markiert mit 400 Metern unter dem Meeresspiegel den tiefsten Punkt der Erde. Tiefer geht es nicht mehr. Doch es ist Gottes Wille, dass Jesus noch weiter hinabsteigt. Er stellt sich auf dieselbe Stufe mit den Sündern. Er wird wirklich und wahrhaftig Mensch. Er will nicht nur unsere guten Seiten haben, sondern ist sich auch für die schlechten nicht zu schade. Er geht den Weg vom Himmel herunter auf die Erde.
Und so steigt Jesus hinein in den Jordan. Er kniet vor Johannes dem Täufer nieder, er lässt sich untertauchen wie die Menschen vor ihm und nach ihm. Jetzt ist der Tiefpunkt erreicht. So erfüllt Jesus den Willen Gottes. Am Jordan betritt er den Weg zum Kreuz. Er stellt sich zu den Sündern, zu denen er gar nicht gehört. Und am Ende des Kreuzweges wird er für die Sünde bestraft, die er nie getan hat. Der Unschuldige stirbt für die Schuldigen. So bringt er uns Menschen Gottes Gerechtigkeit. So befreit er uns von der Macht der Sünde und des Todes.
Und so macht er uns deutlich: Die Leiter nach oben ist nicht das Maß aller Dinge. Das Ziel des Lebens ist es nicht, so hoch wie möglich aufzusteigen. Sondern es geht darum, dem zu begegnen, der zu uns heruntersteigt. In Jesus begegnet uns die Fülle Gottes. Deshalb öffnet sich bei seiner Taufe der Himmel. Deshalb reißen die Wolken auf und lassen das helle Licht der Sonne herunterscheinen. Johannes der Täufer und alle anderen dort unten am Jordan hören die Stimme Gottes: »Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe.« Gott überlässt die Welt und die Menschen nicht ihrem Schicksal. Gott steigt herunter, Gott schickt Jesus auf die Erde, damit sich unser Leben ändert. Wir können das nicht selbst tun. Wir können die Sünde nicht mit Wasser abwaschen.
Und auch wenn wir uns etwas einbilden auf unser anständiges Leben – es nützt nichts. Wir brauchen Jesus. Wir brauchen den Geist Gottes, der uns verändert und verwandelt. Wir brauchen die Vergebung, die Jesus durch seinen Weg hinauf zum Kreuz möglich macht. Und deshalb lassen wir uns auf den Namen von Jesus Christus taufen. Wir erinnern uns an seinen Abstieg herunter auf die Erde. Er stellt sich auf eine Stufe mit uns, er nimmt unsere Schuld auf sich. Und er nimmt uns auf in die Gemeinschaft mit Gott, er schenkt uns den Heiligen Geist. Mit Jesus werden wir zu Aufsteigern. Wir brauchen uns nicht mehr krampfhaft an unseren Leitern festhalten. Und wir müssen auch keine Angstmehr vor dem Absturz haben. Jesus ist zu uns heruntergekommen, er steht an unserer Seite. Das will uns Mut machen auch dort, wo wir ganz unten sind. Was an Weihnachten begonnen hat, will in unserem Leben weitergehen. Der Weg in den Himmel steht offen – ohne Leiter, sondern im Glauben an Jesus. Amen.
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