Auge um Auge, Zahn um Zahn
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Auge um Auge, Zahn um Zahn
Auge um Auge, Zahn um Zahn
Liebe Gemeinde,
wir erleben gerade in Deutschland eine unschöne Streitkultur um die Frage ob wir Flüchtlinge aufnehmen und wieviel. Leider hat dieses unschöne umgehen miteinander nicht er jetzt und darin seinen Anfang, sondern wir erleben schon länger eine sogenannte Intoleranz der Toleranz. Das Eskaliert jetzt leider.
Auf der anderen Seite wissen wir auch aus der Weltgeschichte wirkliche Flüchtlingsströme und Völkerwanderungen lassen sich nicht durch irgendwelche Grenzzäune und Mauern und geschweigen denn Gesetze und Verordnungen aufhalten auch im 21. Jahrhundert nicht.
Unsere Politiker haben eigentlich nur die Chance chaotischen Flüchtlingsströmen eine gewisse Ordnung zugeben. Die Flüchtlinge werden kommen, ob wird das wollen oder nicht.
Und irgendwie werden wir gerade auch in dieser Woche durch Gottes Wort daran erinnert, für Menschen, die unsere Hilfe brauchen da zu sein. Auch am heutigen Sonntag spricht genau das Evangelium wieder ganz aktuell in unsere Situation. Wir hören noch einmal wie Jesus in der Bergpredigt zu den Leuten und letztlich auch zu uns spricht:
Matthäus 5, 38-48
38 »Ihr wisst, dass es heißt: ›Auge um Auge, Zahn um Zahn.‹
39 Ich aber sage euch: Setzt euch nicht zur Wehr gegen den, der euch etwas Böses antut. Im Gegenteil: Wenn dich jemand auf die rechte Backe schlägt, dann halt ihm auch die linke hin.
40 Wenn einer mit dir vor Gericht gehen will, um zu erreichen, dass er dein Hemd bekommt, dann lass ihm auch den Mantel.
41 Und wenn jemand von dir verlangt, eine Meile mit ihm zu gehen, dann geh zwei mit ihm.
42 Gib dem, der dich bittet, und weise den nicht ab, der etwas von dir ausleihen möchte.«
43 »Ihr wisst, dass es heißt: ›Du sollst deine Mitmenschen lieben, und du sollst deine Feinde hassen.‹
44 Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde, und betet für die, die euch verfolgen.
45 Damit erweist ihr euch als Söhne eures Vaters im Himmel. Denn er lässt seine Sonne über Bösen und Guten aufgehen und lässt es regnen für Ge-rechte und Ungerechte.
46 Wenn ihr ´nur` die liebt, die euch Liebe erweisen, was für einen Lohn habt ihr dafür zu erwarten? Tun das nicht sogar ´Leute wie` die Zolleinnehmer?
47 Und wenn ihr nur zu euren Brüdern freundlich seid, was tut ihr damit Besonderes? Tun das nicht sogar die Heiden, ´die Gott nicht kennen`?
48 Ihr aber sollt vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist.«
Ein ehemaliger Klassenkamerad, der kein Christ ist, stellte mir in der vergangenen Woche als am Montag die Losung des Tages hieß: Der HERR behütet die Fremdlinge und erhält Waisen und Witwen. Psalm 146,9 folgende Fragen:
Weshalb gehen so viele Menschen gegen diese Politik auf die Straße? Weshalb sind diese Menschen gegen den Moslem?
Weshalb gehen mehrere 10.000 Menschen deshalb auf die Straße das die Kirche noch in unserem Dorfe stehen bleiben kann. Weshalb darf in einem islamischen Land keine Kirche stehen? Weshalb werden die Christen im Islam verfolgt und getötet? Hat schon einmal ein Aufschrei unter den Christen gegeben, wenn viele Kopten in Syrien getötet werden?
Das sind Fragen, die heut in unserer Gesellschaft viele Menschen bewegen, gerade im Angesicht der moslemischen Flüchtlinge. Manche blenden das Fragen aus und reden dann nur noch Stammtischparolen daher, die nur noch Halbwahrheiten beinhalten.
Aber der eine oder andere kommt dann doch auch ins echte Fragen und man sieht auch die wirklichen Ängste. Sicher Ängste kann man überwinden in der Begegnung mit Menschen, mit Flüchtlingen. Und es gilt für uns dann Wege zu gehen, manchmal Wege mit zu gehen, die Mut und Ausdauer erfordern, manchmal sogar bei anderen Verachtung und Spott hervorrufen. Im schlimmsten Fall kann sogar das Leben gefährdet sein, wie es bei der Köllner Oberbürgermeisterin war. Und dann dennoch nach dem Gebot Jesus zu leben: „Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde, und betet für die, die euch verfolgen.“
Eine, der es schwergefallen ist, die es aber dennoch geschafft hat, war die spätere holländische Evangelistin Corrie ten Boom:
In der Familie ihres Vaters, dem Uhrmachers ten Boom, in Amsterdam pflegt ein offenes Haus. Während der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg hilft die Familie zahlreichen Juden unterzutauchen. Bis ihr Tun entdeckt, die Familie ins KZ gesteckt wird und alle bis auf Corrie umkommen. Nach dem Krieg reist sie viel, hält Vorträge, wird weltbekannt. Eines Tages begegnet sie im Anschluss an einen Vortragsabend ihrem KZ-Aufseher aus Ravensbrück. Sie erkennt ihn sofort, und ihr graut vor der Begegnung. Doch er kommt auf sie zu und fragt: »Können Sie mir vergeben?« Dann fährt sie fort:
»Da stand ich nun – ich, der Sünden wieder und wieder vergeben wurden – und konnte es nicht! Betsie war dort gestorben – konnte er ihren langsamen, schrecklichen Tod ausradieren – einfach mit dieser Bitte?
Es können nur ein paar Sekunden gewesen sein, dass er dastand mit seiner ausgestreckten Hand, aber für mich waren es Stunden, denn ich musste mit der schwierigsten Sache fertigwerden, mit der ich es je zu tun gehabt hatte.
Denn ich musste es tun. Ich wusste das. Die Botschaft von der Vergebung Gottes hat eine entscheidende Voraussetzung: dass wir denen vergeben, die an uns schuldig geworden sind. ›Wenn ihr den Menschen ihre Übertretungen nicht vergebt‹, sagt Jesus, ›wird auch der Vater im Himmel euch die Übertretungen nicht vergeben.‹
Das wusste ich – nicht nur als Gebot Gottes, sondern auch aus täglicher Erfahrung.
Seit dem Ende des Krieges unterhielt ich in Bloemendaal das Heim für Opfer des Naziregimes, und gerade dort konnte ich es doch mit Händen greifen:
Nur die, die ihren früheren Feinden vergeben konnten, waren in der Lage zurückzufinden und neu anzufangen, gleich, in welchem körperlichen Zustand sie sich befanden. Wer seine Bitterkeit pflegte, blieb Invalide. Das war ebenso einfach wie schrecklich.
Und ich stand da mit einem kalten Herzen. Aber Vergebung ist kein Gefühl – das wusste ich auch. Vergebung ist ein Akt des Willens, und der Wille kann ohne Rücksicht auf die Temperatur des Herzens handeln.
›Jesus, hilf mir‹, betete ich leise. ›Ich kann meine Hand heben. Wenigstens das kann ich tun. Das Gefühl musst du dazutun.‹ Hölzern, mechanisch legte ich meine Hand in die ausgestreckte Hand des Mannes. Als ich es tat, geschah etwas Unglaubliches. Die Bewegung entstand in meiner Schulter, sie strömte in meinen Arm und sprang in die umschlossene Hand. Und dann schien diese heilende Wärme mein ganzes Sein zu durchfluten. Tränen kamen mir in die Augen.
›Ich vergebe dir, Bruder‹, weinte ich. ›Von ganzem Herzen.‹«
Wo immer diese Episode aus Corrie ten Booms Leben erzählt wird, identifizieren sich Menschen mit ihr und fragen sich: Könnte ich so vergeben wie sie?
Ich stelle hier einmal eine ganz gewagte Frage: Wer fragt nach dem KZ-Aufseher, der hier um Vergebung bittet?
Es ist ja nun wirklich nicht so, dass wir Opfer eines Gewaltregimes wären. Wir gestalten unser Leben weitgehend unabhängig, sind frei in allem, was wir tun, sind in aller Regel Täter. Dennoch fügen wir anderen Menschen immer wieder Böses zu, begegnen ihnen dann wieder und können ihnen nicht in die Augen sehen. Wie rechtfertigen wir unser Handeln dann?
Der KZ-Aufseher von Corrie ten Boom hätte das, was er ihr und ihrer Familie angetan hatte, niemals rechtfertigen können. Er bittet sie stattdessen um Vergebung. Dieser Mann weiß von seinem Unrecht und kommt auf Corrie zu. Er bittet sie um Vergebung. Sie ist dazu nicht in der Lage. Bis sie das weitergibt, was sie selbst empfangen hat: Vergebung. Was er selbst nicht kann, tut so Corrie: Sie erklärt ihn trotz seiner Wahl für liebenswert, ohne dass er sich rechtfertigen muss. Er muss sich nicht für sich einsetzen, sich verteidigen, sich ins Recht setzen. Es ist allein ihre Vergebung, die ihn so in ihre Gemeinschaft aufnimmt. Was auch Corrie weiß: Es ist ein Frieden, eine Gemeinschaft, eine gemeinsame Zukunft, die nur durch den Heiligen Geist in ihr möglich wird. Shalom.
Wie können wir von einem Jeder-setzt-sich-für-sich-selbst-ein zu einem Jedersetzt- sich-für-den-anderen-ein kommen? So dass sich niemand um sich selbst drehen muss, sondern sich jeder um den anderen kümmert? Dabei kann es nicht zuerst um ein Tun gehen, sondern um eine neue Haltung. Um eine Haltung, die dem Reich Gottes entspricht, deren Abbild die Gemeinde ist: Grundhaltung Liebe.
»Liebe statt Duldung«. Wie das gemeint ist?
Wir alle leben in Milieus, in Biotopen, die unserem Lebensstil entsprechen. Nun können wir uns am Riemen reißen und unsere »Ekelschranken « abbauen, die jedes Milieu entwickelt: Wir können ganz andere Musik schätzen lernen und Menschen, die sich unmöglich kleiden. Wir können lernen mit Menschen umzugehen, die Hobbies haben, die regelrecht ekelerregend sind, und an Orte in den Urlaub zu fahren, die grauenerregend sind. In dem Maße, in dem wir älter werden und unsere seelische Spannkraft nachlässt, werden auch wir intoleranter und distanzierter. Unsere Akzeptanz kostet uns Kraft. Das beste Zeichen, dass sie nicht durch den Heiligen Geist gewirkt ist.
Aber welchen Grund sollten wir überhaupt haben, uns mit solchen Menschen zusammentun zu wollen?
Welchen Gewinn habe ich von einer Gemeinschaft, die nicht meinen Musikgeschmack teilt, meine Ästhetik nicht respektiert und Gottesdienste
feiert, die mich nicht ansprechen?
Wie können wir angeleitet werden auf Flüchtlinge aus anderen Kulturkreisen und Religionen zu zugehen und ihnen zu begegnen?
Jesus möchte uns nicht zu einer seelisch sehr anstrengenden Duldung verführen.
Jesus will zu einer Liebe anleiten, die ihr Gegenüber mit allem liebt, was zu ihm gehört. Und das Beste:
Das kostet keine Kraft, sondern wo wir uns dafür öffnen, schenkt es uns Gott durch den Heiligen Geist.
Duldung hätte für Corrie ten Boom dazu geführt, den KZ-Aufseher zu einer Rechtfertigung seines Tuns zu bewegen. Liebe führt dazu, dass sie ihn selbst rechtfertigt: mit ihrer Liebe.
Auch den zu lieben, der uns hassenswert erscheint, ist Gottes Wirken in uns.
Mit ihm geistliche Gemeinschaft zu suchen – über Milieugrenzen hinweg, über Altersgrenzen hinweg, über kulturelle Grenzen hinweg – Wirkung des Geistes Gottes. Über Demütigungen hinweg, über Ausgrenzung hinweg, über Schläge und Schmerzen hinweg – Wirkung des Geistes Jesu Christi.
Gottes Ziel mit unserem Leben ist es daher nicht, uns mit dieser Welt und ihren trennenden »Regeln« zu arrangieren, sondern hier und jetzt so leben zu lernen, wie es dem Reich Gottes und dem Himmel (»wie im Himmel, so auf Erden«) entspricht.
Notfalls auch um den Preis des eigenen Lebens, wie wir an Jesus sehen.
Ihm folgen wir mit unserem ganzen Leben nach. Amen.