Predigt (Frieden)
Notes
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Drittletzter Sonntag im Kirchenjahr
Drittletzter Sonntag im Kirchenjahr
Zugänge
1. Der Sonntag
Hoffnung auf Frieden und Weltuntergangsstimmung sind die Pole, zwischen denen sich dieser Sonntag bewegt. Starke Friedenstexte malen ein Bild vom Reich Gottes, in dem Frieden und Gerechtigkeit einander küssen (Ps. 85) und Menschen nicht länger Krieg gegeneinander führen. Am 24. Februar 2022 griffen russische Truppen die Ukraine an. Wie wird sich die politische Lage in Europa bis November verändert haben? Wie wird es den Menschen in der Ukraine und den Millionen Geflüchteter bei uns und in den Nachbarländern gehen? Ganz sicher werden der Schrecken des Krieges und die Sehnsucht nach Frieden mit neuer Dringlichkeit im Zentrum dieses Sonntags stehen.
2. Der Text
Der christliche Glaube hat keine eindeutigen Antworten für uns. Der Predigttext bildet den Beginn der sogenannten „Kleinen Apokalypse“ im Lukasevangelium. Die Frage der Pharisäer nach einem Zeitpunkt für das Kommen des Gottesreiches beantwortet Jesus nicht. Es ist schon da, sagt er und verortet es in einer bestimmten Glaubenshaltung. Mit Gottes Reich ist jeden Moment zu rechnen – und zwar mitten in unserer Welt. Jesus vertröstet hier nicht auf einen bestimmten, mehr oder weniger entfernten Zeitpunkt, sondern ruft seine Jünger zur Wachsamkeit auf. Sie sollen ihre Lebenswelt gestalten, durch Wort und Tat. So verändert der Verfasser des Lukasevangeliums die jüdische Erwartung von Gottes Königreich auf Erden in die christliche Hoffnung, dass im Leben und Wirken Jesu Gottes Reich bereits angebrochen und schon jetzt Wirklichkeit ist – versteckt, nicht mit Händen greifbar und doch mit der Macht, eines Tages die ganze Welt für alle sichtbar zu verändern.
Anders betrachtet
Der Text Lukas 17,20-24
Den November gibt es, damit wir nach vorne denken. Nicht nur an die nächsten Monate und Jahre, sondern noch viel weiter nach vorne: bis an das Ende und wie es vielleicht aussieht. Von Anfang an lässt der Schöpfer uns wissen, dass die Schöpfung, diese Erde, ein Ende haben wird und ein neuer Himmel und eine neue Erde auf uns warten. Das sagen schon die Propheten (Jesaja 65,17) – und Jesus bekräftigt es. Der Schöpfer wird auch der sein, der seine Schöpfung vollendet und uns richtet. Das muss uns nicht schrecken. Richten ist doch nur ein Bewerten unseres Lebens. Haben wir Gott mehr vertraut als den Menschen?
Jesus hat das getan. Und er nennt dieses Vertrauen in Gott und die Liebe „Reich Gottes“ – den anderen Be-Reich im Reich der Welt. Wo Liebe ist und Achtung, da ist das Reich Gottes. Wo wir einander beistehen ohne Bedingungen, da ist das Reich Gottes. Wo Menschen einander trösten und sich, bildlich gesprochen, Gott in die Arme werfen, da ist das Reich Gottes. Manchmal blitzt es auf und verblüfft uns. Dann machen wir es ihm gleich und fühlen oder wissen: Da war es, dieses Reich der Liebe. Und wenn wir das empfinden, wollen wir es am liebsten nie mehr loslassen.
Predigt zu Lukas 17,20-24
Lesen des Textes unter 3 und 6 – der biblische Text ist abgedruckt
Predigt zu Lukas 17,20-24
Lesen des Textes unter 3 und 6 – der biblische Text ist abgedruckt
Thema der Predigt: Friede heißt, der Liebe zu vertrauen
Thema der Predigt: Friede heißt, der Liebe zu vertrauen
Zugang zur Predigt:
Was kann ich für den Frieden tun? Die Predigt interpretiert die sperrige Frage nach dem Kommen des Reiches Gottes als Ausdruck der Sehnsucht nach Frieden, Gerechtigkeit und Heil. Überall dort, wo wir Mitmenschlichkeit leben, handeln wir in der Nachfolge Jesu und tragen unseren Teil zum Reich Gottes als einem friedlichen Zusammenleben aller bei. Frieden hat viele Gesichter. Diese Aussage verweist darauf, dass Krieg und Gewalt Namen und individuelle Schicksale der Menschen ausblenden. Frieden basiert dagegen auf der Bereitschaft, in Beziehung zueinander zu treten und im Gesicht eines anderen Menschen Gott selbst zu sehen.
1
Der Friede hat viele Gesichter. Seine Kraft besteht in persönlichen Schicksalen, in Lebensträumen und Zukunftshoffnungen vieler einzelner Menschen. Wir haben nur dieses eine Leben hier auf der Erde und dafür wünschen wir uns Frieden und Glück.
In den vergangenen Monaten fühlte ich mich manchmal hilflos und ratlos. Mein eigener Beitrag zum Frieden scheint so klein zu sein im Vergleich zu den großen Ereignissen und schrecklichen Bildern von Krieg und Gewalt. Was kann ich, was können Sie selber für den Frieden tun? Wo immer ich diese Frage stelle, bekommt Frieden neue Gesichter für mich. Denn Menschen geben mir Antworten, die mir Mut und Hoffnung machen.
2
Eine Frau erzählte mir von ihrer russischen Großmutter: Sie wurde 1915 geboren, mitten hinein in den Ersten Weltkrieg. Dann kam die große Hungersnot in den 1920er-Jahren, dann der Zweite Weltkrieg. Es kamen deutsche Soldaten in ihr Dorf. Als junge Frau lebte sie in einem Stall auf einem Bauernhof und versuchte irgendwie durchzukommen. Als ihre Enkelin sie später fragte: „Oma, wie ist es dir ergangen in dieser Zeit? Was hast du erlebt, was hast du gefühlt?“ Da antwortete sie immer nur: „Es war Krieg.“ Dann, als der Krieg vorbei war, gründete sie eine Familie, bekam sieben Kinder. Eine ihrer Töchter heiratete einen deutschen Mann. Und wieder fragte die Enkelin: „Oma, wie war das für dich, als Mama ausgerechnet mit einem Deutschen ankam?“ Und sie antwortete: „Einen besseren Mann hätte sie nicht finden können.“
Wie stark ist es von dieser Großmutter, dass sie den einzelnen Menschen sieht. Sie sieht das offene Lächeln ihres Schwiegersohns und die verliebten Blicke ihrer Tochter. Sie sieht in ihrem Schwiegersohn nicht den Deutschen, den ehemaligen Kriegsfeind. Sie sieht ihn als Person.
3
Das lerne ich von ihr und ihrer Geschichte: Frieden lebt davon, dass ich jeden einzelnen Menschen mit Namen und Gesicht wahrnehme, mit seiner und ihrer Lebensgeschichte. Frieden stellt sich gegen Schwarz-Weiß-Denken. Frieden fragt nicht danach, wer der Feind ist oder wer Schuld hat. Frieden fragt danach, wie Du und Ich miteinander leben wollen.
Stell Dir vor, dass alle Menschen in Frieden miteinander leben. Die Sehnsucht nach weltweitem Frieden für alle Menschen ist eine uralte Hoffnung. Sie ist gerade deshalb so stark, weil Menschen aller Generationen erleben: Diese Welt ist kein friedlicher Ort. Immer wieder führen Menschen Krieg und fügen anderen Leid zu. Oder scheinbar grundlos trifft uns ein Unglück, das uns den Boden unter den Füßen wegzieht. Beispiele dafür gibt es so unendlich viele: Die eine wünscht sich sehnlichst ein Kind und kann nicht schwanger werden. Ein anderer begleitet einen todkranken Angehörigen und muss aushalten, dass es ein langer und schwerer Weg sein kann, bis jemand endlich sterben kann. Aber es sind nicht nur Fragen von Leben und Tod, auch eine enttäuschte Liebe oder ein Unrecht, das wir einfach nicht geraderücken können, löst bei uns die Frage nach Gott aus: Wo ist Gott jetzt? Wie kann ich an ihn glauben, wenn ich ihn in meinem Leben nicht spüre?
Wo Gott ist, da muss doch Frieden sein! In unserem biblischen Text zu diesem Sonntag geht es um diese Frage, sie wird nur etwas anders gestellt. Ich lese bei Lukas im 17. Kapitel, was Jesus sagt: „Als Jesus aber von den Pharisäern gefragt wurde: Wann kommt das Reich Gottes?, antwortete er ihnen und sprach: Das Reich Gottes kommt nicht mit äußeren Zeichen; man wird auch nicht sagen: Siehe, hier!, oder: Da! Denn sehet, das Reich Gottes ist mitten unter euch.“
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Diese kurze Szene wurde einige Zeit nach dem Tod Jesu aufgeschrieben. Der Tempel in Jerusalem war zerstört. Es gab keine Augenzeugen mehr, die Jesus von Nazareth persönlich begegnet waren. Stattdessen wurden Christinnen und Christen unter dem römischen Kaiser Domitian wegen ihres Glaubens verfolgt. Es muss eine Zeit der Verunsicherung gewesen sein, in die hinein dieser Text ursprünglich sprach: „Das Reich Gottes ist mitten unter euch!“
Lange Zeit haben die biblischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler diese Sätze Jesu unmittelbar auf die Kirche bezogen. In der Gemeinschaft von Christinnen und Christen und in ihrem Glauben sei Gottes Reich schon jetzt spürbar. Das hat etwas Exklusives; und es übersieht: Jesus spricht hier mit den Pharisäern. Die Vertreter der jüdischen Gemeinde fragen nach dem Reich Gottes. Sie meinen damit: Wann kommt Gott endlich vom Himmel herab auf die Erde, um Frieden und Gerechtigkeit zu schaffen?
Jüdinnen und Juden haben diese Frage im Lauf der Geschichte so oft gestellt, meist voller Verzweiflung und Hoffnung. Jesus sagt: Das Reich Gottes wird kommen und es ist schon da. Es ist mitten in eurer Gemeinschaft, dort, wo ihr einander beisteht, euch umeinander sorgt und ganz besonders für diejenigen da seid, die auf Hilfe angewiesen sind. Jesus gehört mit dieser Predigt vom Reich Gottes ganz in sein Volk Israel. Für uns ist es wichtig, ihn hier als Juden zu verstehen und ihn nicht sofort für uns zu vereinnahmen. Denn das Reich Gottes, wie er es lehrt und lebt, gilt allen Menschen ohne Unterschied, nicht nur innerhalb der Kirche.
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Der Bibeltext und die Botschaft Jesu bleiben sperrig. Das Reich Gottes ist mitten unter uns und ist doch nicht eindeutig mit den Händen zu greifen. Ich denke zurück an das vergangene Frühjahr, als von heute auf morgen Millionen von Menschen aus der Ukraine fliehen mussten. Es waren vor allem Frauen und Kinder, die zu uns kamen. Die Hilfsbereitschaft war riesig. Viele Menschen nahmen Familien bei sich zu Hause auf, rückten zusammen, um Platz zu machen. Viele halfen mit Geld, mit Medikamenten, Kinderwagen oder warmen Decken. Angesichts von Krieg und Gewalt ist hier zugleich etwas vom Reich Gottes spürbar, denn Menschen öffnen ihr Herz. Sie sehen sich selbst und ihre Familien in den fremden Gesichtern. Ein schönes, bewegendes Bild eigentlich – wäre da nicht gleichzeitig der Schrecken des Krieges nur zwei Ländergrenzen von uns entfernt.
6
Ja, das Reich Gottes ist schon da – und doch steht es zugleich auch noch aus. An diesem „Ja, aber“ arbeiten wir uns wieder und wieder ab. Einfache Lösungen gibt es
dafür nicht. Im zweiten Teil unseres Predigttextes aus dem Lukasevangelium warnt Jesus seine Jünger davor, denen zu glauben, die einfache Lösungen versprechen:
Er sprach aber zu den Jüngern: Es wird die Zeit kommen, in der ihr begehren werdet, zu sehen einen der Tage des Menschensohns, und werdet ihn nicht sehen. Und sie werden zu euch sagen: Siehe, da!, oder: Siehe, hier! Geht nicht hin und lauft nicht hinterher! Denn wie der Blitz aufblitzt und leuchtet von einem Ende des Himmels bis zum andern, so wird der Menschensohn an seinem Tage sein (Lukas 17,22-24).
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Frieden hat viele Gesichter. Gottes Frieden bekommt durch ihn selbst, durch Jesus Christus, ein menschliches Gesicht. In ihm sehen und begegnen wir Gott. Er ist kein glänzender Held, der die Bösen bestraft, Ungerechtigkeiten im Handumdrehen beseitigt oder mit Waffengewalt Frieden erzwingt. Seine Kraft zeigt sich darin, dass er unser Leiden, unseren Schmerz, sogar unsere Frage nach Gott teilt. Er hat keine einfachen Antworten und keine schnellen Lösungen für uns und für unsere Welt. Noch nicht. Eines Tages wird er wiederkommen als Menschensohn, hell wie ein Blitz, für alle sichtbar. Dann wird unsere Welt eine andere werden.
Aber wir brauchen nicht auf diesen Tag zu warten, darauf, dass Gott eingreifen wird. Denn Gottes Reich ist schon da, mitten unter uns. Es ist dort, wo wir Ausschau halten nach Gott, wo wir uns für die Möglichkeit öffnen, dass er uns in einem anderen Menschen begegnet. Dieses Versprechen nimmt mich und mein begrenztes, kleines Leben hinein in Gottes Wirklichkeit. Mein eigener Beitrag zum Frieden in dieser Welt steht nicht für sich. Ich stehe nicht alleine da. Was mich in Erfahrungen von Verzweiflung, Wut und Hilflosigkeit trägt, ist der Glaube an Gott, der Frieden für alle Menschen und Geschöpfe dieser Erde will und ihn schaffen wird: durch Jesus Christus, durch dich und mich, durch eine russische Frau, die trotz vieler Erfahrungen von Gewalt noch das Gute im Menschen sieht und der Liebe vertraut.