Der Zweifler! (2)

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Der Zweifler!

Predigt Buß- und Bettag 2022
Romans 2:1–11 BB
1 Deshalb hast du auch keine Entschuldigung, du Mensch, der du dich zum Richter aufspielst. Das gilt für jeden, der so handelt. Wenn du jemand anderen verurteilst, sprichst du damit selbst das Urteil über dich. Denn du verurteilst zwar andere, handelst aber genauso. 2 Wir wissen aber: Wer so handelt, über den spricht Gott das Urteil. Und dieses Urteil entspricht der Wahrheit. 3 Du Mensch, du tust doch genau dasselbe wie die anderen, die du verurteilst. Rechnest du wirklich damit, dem Urteil Gottes entgehen zu können? 4 Oder missachtest du Gottes große Güte, Nachsicht und Geduld? Erkennst du denn nicht, dass Gottes Güte dich dazu bewegen will, dein Leben zu ändern ? 5 Du bist starrsinnig und im tiefsten Herzen nicht bereit, dich zu ändern. Und so ziehst du dir selbst mehr und mehr den Zorn Gottes zu bis zum Tag des Zorns. Das ist der Tag, an dem Gott sich als gerechter Richter offenbart. 6 Gott wird allen das geben, was sie für ihre Taten verdienen: 7 Es gibt Menschen, die sich nicht davon abbringen lassen, Gutes zu tun. Es geht ihnen um Herrlichkeit, Ehre und Unvergänglichkeit. Ihnen wird Gott das ewige Leben schenken. 8 Aber andere handeln aus Eigennutz. Sie folgen nicht der Wahrheit Gottes, sondern setzen auf das Unrecht. Gottes grimmiger Zorn wird sie treffen. 9 Über jeden Menschen, der Böses tut, lässt er Not und Verzweiflung hereinbrechen. Das gilt an erster Stelle für die Juden und dann auch für die Griechen. 10 Aber jedem, der Gutes tut, schenkt Gott Herrlichkeit, Ehre und Frieden. Das gilt ebenso an erster Stelle für die Juden und dann auch für die Griechen. 11 Denn Gott richtet ohne Ansehen der Person.
Liebe Gemeinde,
„Eigentlich habe ich an dem Abend so ziemlich alles falsch gemacht.", so fasste eine Frau im Rückblick ihr Verhalten zusammen. Es sollte ein geselliger Abend im Freundeskreis werden. Man wollte gemütlich beim Essen zusammensitzen und ein wenig plaudern. Doch es knirschte zwischen den Gastgebern: zuerst ein dummer Spruch, dann eine gemeine Bemerkung von ihm; ein verletzter Blick von ihr. Als die beiden in der Küche sind, hören die Gäste es klatschen. Als die Gastgeberin wieder zurückkommt, sieht man den Händeabdruck noch im Gesicht. Sie versucht, die Situation zu überspielen, drängt die Gäste zu bleiben. Es gäbe noch Nachtisch. Dem Ehemann sei nicht gut, er müsste sich zurückziehen. Sie tut so, als ob nichts gewesen sei. Doch stumme Tränen fließen die Wangen herunter. Und die Gäste - sie spielen das Spiel mit. Obwohl ihnen unwohl dabei ist, obwohl sie es fühlen: das geht so nicht.
Hinterher erst kommen die Gedanken: Hätte ich etwas anders machen können? Hätte man es ansprechen sollen, was alle sehen: ,,Dein Mann hat dich geschlagen!"; dem Mann hinterher gehen: ,,Bist du wahnsinnig, deine Frau zu schlagen?" Die Freundin mitnehmen: ,,Du kannst hier nicht mit ihm allein bleiben!"
Stattdessen haben alle geschwiegen; weil man in dem Haus nur zu Gast ist; weil man den Willen der Anderen respektieren muss; weil man sich nicht in die Ehe anderer einmischt; weil man das nicht tut. Entschuldigungen gäbe es viele: Konvention und Höflichkeit; Respekt und Wahrung der Privatsphäre: Das geht doch nur das Paar an?
Wie hätten wir reagiert? Vielleicht so: ,,Ja, was hättest du auch tun können? Am Ende wäre es noch eskaliert. Vielleicht war es nur ein Ausrutscher, eine Tat im Affekt. Es wird ihm selbst peinlich gewesen sein. Es war schon schlimm genug für sie."
Hätten wir versucht, die Bedenken zu zerstreuen; hätten wir bemüht, die Erzählerin zu entschuldigen. Hätten erklärt, dass nicht sie sich in diese Situation gebracht hat, sondern der Täter; dass sie im Grunde ebenfalls ein Opfer ist: das Opfer eines gewalttätigen Mannes.
Doch wir sind nicht gefragt worden. Die Erzählerin war allein mit der Frage: ,,Hätte ich anders handeln können?" Sie war allein mit ihrer Schuld. Zurückblickend erklärt sie: ,,Eigentlich habe ich an dem Abend so ziemlich alles falsch gemacht."
„O Mensch! Du kannst dich nicht entschuldigen!", sagt Paulus. Nicht vor dir selbst und auch nicht vor dem Urteil Gottes:
O Mensch! Denkst du, dass du dem Urteil Gottes entrinnen wirst? Du häufest dir selbst Zorn an.
Der Philosoph Professor Herbert Butterfield sagt es so:
Es ist eine Tatsache, dass ich Verantwortung oder Freiheit in mir selbst erkennen kann - ich kann mich innerlich sicherer fühlen, dass es mir möglich war, bei diesem oder jenem zu helfen, als ich es bei den Dingen kann, die zur externen Wissenschaft gehören. Kein ehrlicher Mensch wird die persönliche Bedeutung dieser Bemerkung leugnen. Wir alle sind uns in unseren offeneren Momenten der Tatsache bewusst, dass wir uns leichter dem Bösen beugen als dem Guten, dass wir mit größerer Leichtigkeit das Gute für uns selbst als das Gute für andere suchen, dass unsere Tugenden mehr auf der Furcht vor Strafe als auf der Liebe zum Guten beruhen und dass Stolz, Selbstbehauptung, Arroganz, das eigentliche Element und die Essenz aller Sünde, sich wie ein durchdringendes Gift mit all unseren Behauptungen und Praktiken des Guten vermischt. Kurzum, wenn es keine Lehre vom Sündenfall und von der Erbsünde gäbe, müsste man eine solche erfinden.
Professor Herbert Butterfield
Sie halten heute Abend am Bußtag eine Karte in der Hand mit einem Bild von einer Figur von Ernst Barlach. Ich persönlich liebe die ausdruckstarken Figuren von Ihm. Als ich im Sommer in Ratzeburg war, habe ich mir den Bettler und den lehrenden Christus angeschaut.
Die Figur auf der Karte heißt “Der Zweifler” Ernst Barlach hat die Figur 1937 aus Holz gestaltet. Sie ist einen Meter hoch, ungefähr so groß wie ein Mensch, wenn er kniet. Wenn man vor der Figur steht und den „Zweifler" anschaut, blickt man auf ihn herab. Sieht man genauer hin, erkennt man, dass er kniet. Man erkennt: er ist so groß oder so klein, wie ich selbst es bin. Es gibt keinen Grund, auf ihn herabzuschauen. Ich selbst bin ihm gleich, wenn ich knie. Für Barlach hat er sogar autobiografische Züge, denn nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 verstärken sich die Angriffe auf Barlach als Mensch und Künstler, die national-reaktionäre Kreise bei der Errichtung seiner Kriegerehrenmale in der Weimarer Republik begannen.
Dieser Zweifler ist keiner, der an etwas oder jemandem zweifelt; er ist auch kein Gottzweifler.
Ich denke, dass dieser kniende Mensch ein Selbstzweifler ist: Seine Hände liegen im Schoß, ringen miteinander. Die Arme ziehen die Schultern nach unten. Fast meine ich, die sich widerstrebenden Kräfte in diesen Armen zu spüren: nach unten und zugleich nach oben; als wollte der Kopf sich von den Händen trennen, das Gewissen sich von den Werken der Hände distanzieren. Es schmerzt in einem zweifelnden Körper zu stecken.
Selbstzweifel, sagt man, sind quälend. ,,Du häufet dir selbst Zorn an.", schreibt Paulus. Ernst Barlach zählte im „Dritten Reich" zu den Künstlern, deren Kunst die Nationalsozialisten vernichten wollten und vernichtet haben. Sogenannte „Entartete Kunst" wurde aus den Museen entfernt. Allein von Ernst Barlach waren es etwa 400 Werke. Barlach kämpft mit seiner Kunst gegen diesen „Ungeist", wie er es nennt. Er erkennt - anders vielleicht als manche anderen - den Ungeist, das Falsche, das Hässliche, das Menschenverachtende in der nationalsozialistischen Ideologie. Und fragt sich immer wieder sich, ob sein Lebensweg richtig gewesen sei. Habe ich das richtig gemacht? Hätte ich anders handeln sollen? Er zweifelt an sich. Unklarheit gab es auch bei ihm, das stand ihm deutlich vor Augen. Er war lange Zeit nicht eindeutig in seiner Einstellung dem Nationalsozialismus gegenüber. Denn er empfand sich als unpolitischen Menschen und Künstler.
„Der Zweifler" hält den Kopf schräg, wie einer, der nachdenkt. Die Augen blicken nach oben als suchten sie nach einem Gegenüber, das Antwort weiß. Der Mund ist leicht geöffnet, als ob eine Frage gerade über die Lippen gegangen ist. „Den Zweifler" quält die Frage nach dem Urteil über seine Person. Und der Apostel Paulus fragt:
Denkst du, o Mensch, dass du dem Urteil Gottes entrinnen wirst?
O Mensch! - Paulus wird hier grundsätzlich. Gleich zwei Mal hintereinander kommt in diesem Abschnitt diese Anrede an die Leser und Leserinnen seines Briefes vor. Es geht hier nicht um Römerinnen und Römer oder um Männer oder Frauen. Es geht auch nicht um Juden oder Griechen. Das betont er hier zwei Mal. Es ist kein Ansehen der Person. Es geht um eine grundsätzliche Bestimmung des Menschen: O Mensch!
Und dieser Mensch, das bist du, das bin ich, das ist der Mensch an sich. Paulus geht davon aus: ,,Jeder Mensch ist so." Also auch wir, du und ich. Uns also erklärt, ja ermahnt Paulus:
O Mensch, du wirst unweigerlich im Leben schuldig, vergehst dich an der Gerechtigkeit und lädst Zorn auf dich.
Weil du Mensch bist - und darin unterscheidest du dich von deinem Nächsten in nichts - kannst du dich nicht entschuldigen.
Weil du Mensch bist und mit Menschen zusammenlebst, bist du abhängig von deinem Mitmenschen: du bist angreifbar und so auch verletzlich und verwundbar: Und hast doch zugleich die Möglichkeit auch andere zu verletzen und zu verwunden. Und tust es auch, gewollt oder ungewollt.
Darum, o Mensch, kannst du dich nicht entschuldigen, wer du auch bist, der du richtest. Denn worin du den andern richtest, verdammst du dich selbst, weil du ebendasselbe tust, was du richtest.
Die Figur „Der Zweifler" erinnert mich an einen Menschen, der darum weiß. Und deshalb wird hier auch nichts beschönigt. Er will keine Entschuldigung und Ausreden erfinden. Der „Zweifler" geht in die Knie wie ein Mensch, der davor erschrickt, dass der Mensch im Leben einfach schuldig wird. Das ist eine bittere Erkenntnis. Man erkennt sie an einem Gegenüber. Man mag diese Instanz Gewissen nennen. Oder Wahrheit. Oder Gott.
Ich gebe wieder das, was ist, das Wirkliche und Wahrhaftige.", schreibt Ernst Barlach an einen Freund. Er beschreibt in diesem Brief wie er aus einem Stück Holz eine Figur herausarbeitet und wie er das Holz dreht und wendet und mit dem Auge bemisst.
„Ich gebe wieder, nicht was ich für mein Teil sehe oder wie ich es von hier oder da sehe, sondern das, was ist: das Wirkliche und Wahrhaftige, das ich erst aus dem, was ich vor mir sehe, heraussuchen muss".
„O, Mensch" - das ist es doch, was den Menschen zu seinem Mitmenschen in Beziehung setzt: dass wir sehen - wie ein Bildhauer sieht -, was in dem Klotz da vor mir steckt. Ich muss suchen, was ist. Ich verlasse mich nicht auf meine erste Wertung, mein erstes Urteil, sondern schaue weiter, suche, befrage mich und mein Handeln. Zweifle möglicherweise, auch an mir. Der Selbstzweifler, die Selbstzweiflerin ist eine, die sich diesen Fragen aussetzt - auch im Nachhinein: ,,Habe ich das richtig gemacht?" ,,Hätte ich etwas anders machen können?"
„O Mensch!", dieser Ruf geht ins Herz, erschreckt und mahnt und befragt.
Ich vermute, es ist einfacher, die Selbstzweifel beiseite zu schieben und eine klare Haltung zu zeigen, bei einer einmal getroffenen Entscheidung zu bleiben: ,,Was ich geschrieben habe, habe ich geschrieben", sagt Pontius Pilatus.
Ich vermute, es ist auch einfacher, sich vor sich selbst zu entschuldigen, die Verantwortung zu leugnen und die Hände in Unschuld zu waschen wie Pilatus.
Der Selbstzweifler und die Selbstzweiflerin machen es sich nicht einfach. Sie scheuen sich nicht, sich selbst im Spiegel anzusehen. Auch wenn es schmerzlich ist, für sie gehört es dazu, wenn man wahrhaftig sein will. Es gehört dazu, die eigene Meinung auch einmal zu korrigieren. Es gehört dazu, an vermeintlich festen Positionen auch einmal zu rütteln. Selbst Grundsätze muss man möglicherweise einmal aufgeben, wenn sie nicht mehr stimmen. Das klingt vielleicht einleuchtend, wenn ich es so beschreibe, im praktischen Leben ist das aber alles andere als leicht.
Philipp Melanchthon war so ein Selbstzweifler, der schlaflos im Bett lag und vom Grübeln schon Magengeschwüre hatte. Der Apostel Paulus hätte ihn vielleicht gefragt:
Verachtest du den Reichtum seiner Güte, Geduld und Langmut? Weißt du nicht, dass dich Gottes Güte zur Buße leitet? '
In der Güte Gottes, in der Beichte und Buße findest du den Weg heraus. Darum ermutigte und ermunterte Martin Luther seinen Freund Melanchthon: ,,Sündige tapfer!" Man braucht wohl diese Tapferkeit, um zu ertragen, dass man im Leben kein Heiliger ist, dass man Fehler macht, Schuld auf sich lädt, wie man sich auch entscheidet. Man braucht wohl auch Tapferkeit, das zuzugeben und nicht zu verdrängen und manchmal auch sich zu verändern.
Aber Luthers Satz an seinen Freund geht noch weiter: ,,Sündige tapfer, aber glaube noch viel tapferer!" Wir haben einen gnädigen Gott, predigte Luther. Paulus schreibt: Wir haben einen gütigen Gott. Er stellt dem Menschen, jedem Menschen in Aussicht, was Gott bereithält:
Ewiges Leben denen, die in aller Geduld mit guten Werken trachten nach Herrlichkeit, Ehre und unvergänglichem Leben; Herrlichkeit aber und Ehre und Frieden allen denen, die das Gute tun.
Selbstzweifel sind in Ordnung, sie helfen uns, dass wir uns nicht über andere überheben. Sie helfen uns, uns im Leben am Guten zu orientieren am Guten. Aber sie sollen uns nicht zerstören.
Barlachs „Zweifler" hat die Augen offen. Er schaut nach oben, wo er nicht nur das Urteil, sondern auch Hilfe erwartet: ,, Herrlichkeit, Ehre und unvergängliches Leben" Es sieht so aus, als wenn er die Zusage Jesu hört: ,,Dir sind deine Sünden vergeben." Und dann steht er auf und stellt sich aufrecht hin und geht mit dem Segen weiter ins Leben.
Amen.
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