Die Kunst neu zuzuhören

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Die Kunst neu hinzuhören

Die Kunst neu
Und als er wieder fortging aus dem Gebiet von Tyrus, kam er durch Sidon an das Galiläische Meer, mitten in das Gebiet der Zehn Städte. Und sie brachten zu ihm einen, der taub war und stammelte, und baten ihn, dass er ihm die Hand auflege. Und er nahm ihn aus der Menge beiseite und legte ihm die Finger in die Ohren und spuckte aus und berührte seine Zunge und sah auf zum Himmel und seufzte und sprach zu ihm: »Hefata!«, das heißt: »Tu dich auf!« Und sogleich taten sich seine Ohren auf, und die Fessel seiner Zunge wurde gelöst, und er redete richtig. Und er gebot ihnen, sie sollten’s niemandem sagen. Je mehr er’s ihnen aber verbot, desto mehr breiteten sie es aus. Und sie wunderten sich über die Maßen und sprachen: Er hat alles wohl gemacht; die Tauben macht er hören und die Sprachlosen reden.
Mark 7:31–37 BB
31 Danach verließ Jesus das Gebiet von Tyros wieder. Er kam über Sidon zum See von Galiläa, mitten ins Gebiet der Zehn Städte. 32 Da brachten Leute einen Taubstummen zu ihm. Sie baten Jesus: »Leg ihm deine Hand auf!« 33 Jesus führte ihn ein Stück von der Volksmenge weg. Er legte seine Finger in die Ohren des Taubstummen und berührte dessen Zunge mit Speichel. 34 Dann blickte er zum Himmel auf, seufzte und sagte: »Effata!«, das heißt: Öffne dich! 35 Sofort öffneten sich seine Ohren, seine Zunge löste sich, und er konnte normal sprechen. 36 Jesus schärfte ihnen ein, nichts davon weiterzuerzählen. Aber je mehr er darauf bestand, desto mehr verkündeten sie, was Jesus getan hatte. 37 Die Leute gerieten völlig außer sich vor Staunen und sagten: »Wie gut ist alles, was er getan hat! Durch ihn können die Tauben hören und die Stummen reden!«

3.​Die Kunst, neu hinzuhören

Die Heilung eines Taubstummen — Markus 7,31-37

Die Geschichte von der Heilung des Taubstummen gehört zum Sondergut des Evangelisten Markus. Dieser schrieb in besonderer Weise für Nichtjuden. Kein Wunder, dass er an dieser Episode besonders interessiert ist, denn sie spielt im heidnischen Umland Palästinas, im sogenannten »Gebiet der Zehn Städte«. Auf Griechisch heißt diese Gegend »Dekapolis« und war eine Ansammlung von ursprünglich zehn alten griechischen Kolonien östlich des Sees Genezareth.
Kurz zuvor war Jesus mit den jüdischen Autoritäten mächtig aneinander gerasselt. Und irgendwie war es für ihn nicht weitergegangen in Galiläa, jedenfalls im Moment nicht. Jesus und in seiner Nachfolge später auch die Apostel bringen das Evangelium deshalb dorthin, wo man offen dafür ist. Dorthin, wo Hoffnung besteht, dass Menschen sich dem Evangelium gegenüber offener zeigen, selbst wenn diese Heiden oder Sünder wären.
Dort, wo sich Menschen dem Evangelium gegenüber verschließen, gehen die Verkündigenden einfach weiter. Jesus verlässt also – vorübergehend – seine »Kerngemeinde«, als er dort an einen toten Punkt gekommen ist, und wendet sich anderen Menschen zu: »Wenn jemand euch nicht aufnehmen und eure Botschaft nicht anhören will: Verlasst das Haus oder die Stadt und schüttelt den Staub von euren Füßen.« (Matthäus 10,14)
Dort – in der Dekapolis – bringen die Einheimischen einen »Taubstummen« zu Jesus. Das hier verwendete Wort im Griechischen heißt eigentlich »mit Mühe redend«. Es scheint sich um jemanden gehandelt zu haben, der aufgrund seiner Taubheit nur lallen und nicht richtig reden konnte. Und vermutlich sind es Freunde oder Angehörige, die diesen Mann zu Jesus führen. Damals wie heute kommen die wenigsten Menschen von selbst in den Wirkungskreis Jesu. Bei dem Taubstummen ist der Grund offensichtlich: Jesus, der sich als Wanderprediger einen Namen gemacht hat, ist für ihn, den Gehörlosen, scheinbar völlig irrelevant. Warum sollte er als Gehörloser vor der Stadt einem Prediger zuhören?
Er – so mag man denken und so denkt er selbst – braucht keine Predigt. Er braucht Heilung. Heute ist es ganz ähnlich, dass viele (vielleicht sogar die meisten) Menschen denken, die Botschaft Jesu sei für sie völlig irrelevant. Sie sind der Botschaft des Evangeliums gegenüber tatsächlich »gehörlos«. Es ist ja nicht so, dass sie dieser nie ausgesetzt gewesen wären. Es gibt kaum jemanden in unserem Kulturkreis, der nicht schon einmal an einem Gottesdienst teilgenommen, eine Kinder- oder Jugendgruppe besucht, ein »Wort zum Sonntag« gesehen, eine Morgenandacht gehört oder ähnliches getan hätte. Wenn ein junger Mensch heute die Schule verlässt, hat er oft über 1000 Stunden Religions- und Konfirmandenunterricht absolviert. Und doch haben die meisten Menschen in unserem Kulturkreis so gut wie keine Ahnung von der christlichen Religion. Sie haben keine Bibelkenntnis, von den Zehn Geboten bekommen sie vielleicht zwei oder drei zusammen und von Jesus und seiner Botschaft wissen sie so gut wie nichts. Sie haben gehört und doch nicht gehört: geistliche Gehörlosigkeit.
Auf Predigt sind solche Leute offensichtlich nicht ansprechbar. Aber vielleicht auf Heilung: Heilung der Seele, Heilung des Körpers, Heilung der Erinnerung, Heilung der Beziehungen und anderes mehr. Dass ausgerechnet die Predigt Jesu diese Heilung bringen könnte, darauf kämen sie im Leben nicht. Darum müssen sie – wie der Taubstumme in unserer Geschichte – zu Jesus »gebracht« werden. Die Wenigsten kommen von sich aus in den Gottesdienst, einen Glaubenskurs, eine missionarische Veranstaltung, eine Kleingruppe oder an irgendeinen anderen Ort, an dem man Jesus gut begegnen kann. Es braucht in aller Regel einen oder mehrere Menschen, die einen liebevoll, aber beharrlich dort hinführen.
Das ist durchaus ein Risiko. Haben Sie schon mal jemanden in den Gottesdienst, einen Glaubenskurs oder zu einem christlichen Vortrag eingeladen – und er kam nach längerem Werben Ihrerseits tatsächlich mit? Das ist ein heikler Moment. Was ist, wenn dieser Gottesdienst sich in die vielen anderen Gottesdienste einreiht, die den Eingeladenen einfach nur gelangweilt haben? Was ist, wenn er den Vortragsredner nicht mag oder ihn die im Glaubenskurs angesprochenen Inhalte nicht interessieren?
Es gibt einen Punkt, an dem wir nichts mehr machen können. Da hilft nur noch eins: beten. Und genau das passiert in unserem Text: »Sie baten Jesus: ›Leg ihm deine Hand auf.‹« Das ist das Gebet jedes Menschen, der mit viel Mühe einen anderen Menschen in den Wirkungskreis Jesu bringt: »Herr, lege deine Hand auf diesen Menschen.« Allerdings: Wenn man es genau nimmt, tut Jesus das gar nicht. Er legt dem Taubstummen nicht die Hand auf. Er nimmt ihn vielmehr beiseite, legt ihm die Finger in die Ohren, berührt seine Zunge mit Speichel, sieht zum Himmel auf, seufzt und sagt: »Hefata! – Tu dich auf!« Dann erst kann der Gehörlose hören und sprechen. Jeder Aspekt an dieser kleinen Sequenz ist interessant!
Zunächst: Jesus nimmt den Taubstummen beiseite, weg von der Menschenmenge. Das Christentum ist zwar seinem Wesen nach eine Gemeinschaftsreligion. Dennoch steht etwas höchst Individuelles in der Mitte allen Christseins: nämlich die persönliche Beziehung zwischen einem Menschen und Jesus Christus. Ohne diesen Kern nehmen wir dem Christsein das Entscheidende. Christsein ist seinem Wesen nach nicht ein Verhalten, sondern ein Verhältnis. Ein Christsein, das sich in irgendwelchen äußeren Vollzügen erschöpft, ist wie eine Ehe ohne Liebe: Taten und Gesten mögen sich in Vielem gleichen, aber es fehlt letztlich das, worum es eigentlich geht.
Dass Jesus den Taubstummen beiseite nimmt, ist darum essenziell. Um Gott in Jesus Christus zu begegnen, müssen wir mitunter heraus aus unseren alltäglichen Bezügen. Jesus führt den Kranken sogar von den Menschen weg, die ihn zu ihm hingebracht haben! In unseren menschlichen Beziehungen steckt oft so viel, was uns festlegt, ja mitunter auch krank macht. Darum ist es wichtig, dass wir uns immer wieder von Jesus ein Stück abseits führen lassen in die Stille bzw. in die Begegnung mit ihm.
Sodann: Jesus legt dem Taubstummen seine Finger in die Ohren und berührt seine Zunge mit Speichel. Man muss hierzu wissen, dass man in der Antike dem Speichel Heilkraft zusprach, und so ganz dumm ist das nicht. Verletzte Tiere lecken instinktiv ihre Wunden. Auch Menschen stecken sofort ihren Finger in den Mund, wenn sie sich in den Finger geschnitten haben, und bedecken ihn mit Speichel. Ob das im Fall von Stummheit oder Blindheit (vgl. Johannes 9,6) hilft, kann man natürlich in Frage stellen. Die Heilung erfolgt im Übrigen auch erst später, nach dem Gebet Jesu.
Aber Jesus redet hier mit dem Taubstummen in einer Zeichensprache. In einer Sprache also, die der Mann versteht. »Speichel« heißt für ihn »Heilung«. Tröstende oder ermutigende Worte hätte er ja gar nicht verstanden. Es hätte auch nicht genügt, wenn Jesus dem Mann einfach gesagt hätte, er sei geheilt, denn der hätte es nicht gehört. Jesus berührt vielmehr die Ohren und die Zunge des Kranken und sagt damit: Ich gehe jetzt an deine wundesten Punkte. Und indem er Speichel benutzt, sagt er in seiner ureigenen Sprache: »Ich will dich heilen.«
Dann sieht Jesus zum Himmel auf und – seufzt. Das Wort »Seufzen« spielt in der Bibel eine erstaunlich starke Rolle. Immer wieder hört Gott das Seufzen der Armen, Kranken und Unterdrückten, ja der gesamten Kreatur. Dass Jesus ebenfalls seufzt, zeigt, wie sehr der Gottessohn in dieses Seufzen der Kreatur einstimmt, wie sehr er das Leiden des Kranken mitempfindet und auf sich nimmt. Immer wieder lesen wir im Neuen Testament, dass und wie sehr es Jesus bis ins Physische hinein Kraft gekostet hat, Menschen zu heilen. Die Verbindung zwischen Himmel und Erde herzustellen, ist nichts, was der Gottessohn mit lockerer Hand und einem Lächeln vollzieht.
Dass Jesus in diesem Moment eine solche Verbindung vollzieht, darüber kann kein Zweifel bestehen. Er schaut zum Himmel. Nimmt Blickkontakt auf. Und dann sagt er das wunderbare Wort, das uns als eines von nur vier Jesusworten im originalen Aramäisch erhalten geblieben ist: »Hefata! – Tu dich auf!« Und er meint damit nicht nur die Ohren und den Mund des Taubstummen, er meint damit auch und vor allem den Himmel.
Dann geht alles sehr schnell. Mit einem Mal kann der Mann hören und normal sprechen. Und: Jesus bittet ihn und die Umstehenden – ähnlich wie in anderen Fällen –, über das zu schweigen, was sie soeben erlebt und erfahren haben. Was Jesus hier und andernorts bewegt, ein Schweigegebot auszusprechen, lässt sich nur vermuten. Unsere Deutung ist: Der vormals Taubstumme soll sich erst einmal ins Hören einüben, bevor er über seine Heilung zu sprechen beginnt. Wer dauerhaft recht reden will, muss erst einmal eine Weile zuhören.
Für den vormals Kranken muss sich das Schweigegebot Jesu jedoch wie blanker Hohn angefühlt haben. Von Kindesbeinen an kann er nicht richtig sprechen, und jetzt, wo er es auf einmal kann, darf er es nicht! – Dass sich in dieser wie auch in anderen Geschichten so gut wie niemand an das Schweiegebot hält, ist nicht verwunderlich: »Wir können’s ja nicht lassen, von dem zu reden, was wir gesehen und gehört haben« (Apostelgeschichte 4,20). – Doch verlassen wir an dieser Stelle die Geschichte und wenden uns unserem »evangelischen Patienten« zu.

Wer Ohren hat zu hören …

Taubheit spielt in der Bibel immer wieder eine Rolle, um die Verschlossenheit des Menschen gegenüber dem Reden und Handeln Gottes zu symbolisieren. Denn die Autoren des Neuen Testaments wollen uns ja nicht nur über die Fähigkeit Jesu berichten, Wunder zu wirken. Sie sind viel zu tief verwurzelt in der hebräischen Bibel, um nicht die Symbolik zu erkennen, die über das individuelle Schicksal hinaus in jeder von Jesus geheilten Krankheit steckt. Das, was jenem Taubstummen damals widerfuhr, hat auch für uns Bedeutung. Und wenn ich »für uns« schreibe, meine ich nicht nur die Menschen irgendwo »da draußen«, an die wir unsere Predigten und Botschaften adressieren, sondern zunächst einmal uns selbst als Kirche bzw. als Volk Gottes.
Schon im 6. Jahrhundert vor Christus nahm sich der Prophet Jesaja sein Volk und vor allem die religiösen Führer seiner Zeit zur Brust:
»Macht eure Ohren auf, ihr Schwerhörigen! Macht eure Augen auf, ihr Blinden, damit ihr etwas seht! Ihr meint, der Herr sieht und hört nichts; aber wenn hier einer blind und taub ist, dann seid ihr es« (Jesaja 42,18-20, Gute-Nachricht-Übersetzung).
Isaiah 42:18–20 GNB2018
18 Macht eure Ohren auf, ihr Schwerhörigen! Macht eure Augen auf, ihr Blinden, damit ihr etwas seht! 19 Ihr meint, der Herr sieht und hört nichts; aber wenn hier einer blind und taub ist, dann seid ihr es, das Volk, das er zu seinem Diener erwählt und zu seinem Boten bestimmt hat! 20 Ihr habt Augen zum Sehen und seht nichts, ihr habt Ohren zum Hören und hört nichts.
Hintergrund dieser Worte ist die babylonische Gefangenschaft, eine Zeit, in der die Führungsschicht Israels rund 1200 Kilometer weiter nordöstlich neu angesiedelt wurde – eben in Babylonien. Eine Zeit, in der man sich als völlig gottverlassen empfand. Die Stadt Jerusalem war zerstört. Der Tempel dem Erdboden gleichgemacht. Die religiöse und politische Führung entmachtet, gedemütigt und in die Wüste geschickt. Und mehr und mehr Juden stimmen resigniert mit ein in den Hohngesang der Babylonier: »Euer Gott hört und sieht euch nicht!«
Da tritt Jesaja auf den Plan und kehrt den Spieß um: »Es ist nicht so, dass Gott euch nicht hört oder sieht. Ihr seid es, die nicht hören und nicht sehen.« Wohlgemerkt: Jesaja redet an dieser Stelle nicht zu den Babyloniern und Heiden, sondern zu seinem eigenen Volk, zur religiösen Oberschicht: »Ihr seid es, die – geistlich gesehen – nichts hören und nichts sehen.« Ein ziemlicher Affront! Schließlich sind sie es doch, die mitten im babylonischen Land die alten Geschichten des Volkes Israels sammeln und bewahren, die die Gebote Gottes hochhalten und die Gebetszeiten und Riten beachten und pflegen. Und jetzt müssen sie sich auf einmal vorhalten lassen, dass sie es sind, die nicht hören?
Erinnern wir uns noch mal an den Kontext der Geschichte von der Heilung des Taubstummen. Jesus wurde hier von den religiösen Autoritäten seines Landes vorher hart angegangen. Einer späteren Handschrift zufolge beendet Jesus diese Auseinandersetzung mit den Worten: »Wer Ohren hat zu hören, der höre« (Markus 4,9).
Vielleicht ist es kein Zufall, dass die Geschichte von der Heilung des Taubstummen fast direkt auf diese Episode folgt. Sie schließt auf diese Weise nahtlos an die Kritik Jesajas an den religiösen Führern seiner Zeit an: »Nicht die Menschen da draußen sind taub, sondern ihr selbst seid es!«
Sieben Mal ist uns die Redewendung »Wer Ohren hat zu hören« von Jesus überliefert. Er kannte das Phänomen genau, dass Menschen weghören, woanders hinhören, sich verhören, das Gehörte umdeuten etc. Dass man zwei funktionierende Ohren hat, ist zwar eine notwendige Bedingung, aber keineswegs eine Garantie dafür, wirklich zu hören.

Wie Gemeindearbeit passieren soll

Diese scheinbar kleine Begebenheit sagt mir viel darüber, wie ich den Menschen dienen sollte, wenn ich so dienen will, wie Jesus es tat...
Wie soll Gemeindearbeit passieren?
· Erstens schenkte Jesus dem Taubstummen individuelle Aufmerksamkeit, als er ihn von der Menge absetzte.
· Zweitens gab es eine enge Verbindung, als Jesus seine Finger in die Ohren des Taubstummen steckte.
· Drittens gab es eine offene Anwendung, da Jesus Spucke benutzte, von der man damals annahm, dass sie medizinischen Wert enthielt. Damit gab Jesus uns die Rechtfertigung, das wissenschaftliche Wissen, das er der Menschheit so gütig geschenkt hat, zur Entwicklung von Medikamenten und Verfahren zu nutzen.
· Viertens sehen wir eine himmlische Verherrlichung, als Jesus zum Himmel aufblickte und damit anzeigte, wem alle Ehre gebührt.
· Fünftens zeigte Jesus in seinem Seufzen tiefes Mitgefühl. Wie können wir diese Art des Mitgefühls empfinden? Ich kenne nur einen Weg: indem wir selbst durch Schwierigkeiten gehen. "Gepriesen sei Gott, der uns in unseren Schwierigkeiten tröstet, damit wir andere mit dem Trost trösten können, den wir selbst empfangen haben", würde Paulus erklären (siehe 2. Korinther 1,3-4). Warum lässt der Herr zu, dass wir unter Migräne leiden oder an Krebs erkranken, dass wir einen geliebten Menschen verlieren oder dass ein Unternehmen scheitert? Haben Sie jemals gebetet: "Herr, benutze mich"? Haben Sie den Herrn jemals gebeten, Ihr Leben sinnvoll zu gestalten, damit es nicht banal und unwichtig wird? Wenn ja, dann bedeutet ein Teil seiner Antwort, dass Sie durch Schwierigkeiten gehen müssen, damit Sie für die Menschen seufzen, mit ihnen leiden und ihnen Ihr Herz ausschütten können. Es gibt einfach keinen anderen Weg.
· Schließlich gab es eine artikulierte Erwartung, als Jesus sagte: "Öffnet euch". Ich mag mit den Menschen mitfühlen, ihnen dienen wollen, mit ihnen in Beziehung treten - aber bin ich bereit, das Wort des Glaubens für sie zu sprechen und zu sagen: "In Jesu Namen, möge die Depression verschwinden, möge er deine Gesundheit sein, möge er dich durchbringen"?
Wenn Sie diesem Muster folgen, wenn Sie für Menschen beten - auch wenn sich die Umstände nicht so entwickeln, wie sie es sich gewünscht haben oder wie Sie es für richtig hielten -, wird Ihnen die Person niemals übel nehmen, dass Sie im Gebet die Energie aufgewendet haben, um geistige Barrikaden zu durchbrechen, die Lügen des Feindes zu ignorieren, die besagen, dass Gebet nichts bewirkt, ein Wort des Glaubens und der Erwartung auszusprechen, einen geistigen Kampf für sie zu führen.

Hörende Kirche

Uns als Kirche macht es zu schaffen, dass die Menschen unsere Botschaft nicht mehr aufgreifen. Hier hilft es nicht, noch lauter oder eindringlicher zu verkündigen als bisher. Auch bringt es nicht viel, verstärkt auf digitale Methoden zu setzen – so verspätet das kommt und so wichtig es ist. Die wichtigste Reaktion auf die heute so weit verbreitete Gehörlosigkeit dem Evangelium gegenüber wird vielmehr darin bestehen, selbst verstärkt hinzuhören: auf Gott und die Menschen.
Vielleicht kennen Sie diese Geschichte: Ein Mann hat den Verdacht, dass seine Frau nur noch schlecht hört. Also macht er einen Test. Er stellt sich, während seine Frau am Herd beschäftigt ist, an die Küchentür und fragt: »Schatz, was gibt es heute zu essen?« – Keine Antwort. Also geht er etwas näher an sie heran: »Schatz, was gibt es heute zu essen?« – Wieder keine Antwort. Daraufhin stellt er sich direkt hinter sie: »Schatz, was gibt es heute zu essen?« – Sie dreht sich um und sagt: »Mann, ich sag’s dir jetzt zum dritten Mal: Spiegelei mit Kartoffeln.« – Zugegeben: Der Witz ist alt. Aber er macht einen nicht ganz seltenen Mechanismus deutlich: Manchmal meinen wir, andere würden nicht richtig zuhören. Dabei liegt das Problem möglicherweise bei uns selbst.
Kirche ist in erster Linie dazu berufen, hörende Kirche zu sein. Und das ist durchaus schwer. Die meisten Menschen reden lieber, statt genau hinzuhören. Doch jede Beziehung lebt vom genauen Hinhören, das das Nach-Denken, das Nach-Empfinden des Gehörten einschließt. Erst ein solches Hinhören macht den Dialog möglich – wer nur redet, wird früher oder später allein sein. Wir sind oft so voll von uns selbst und unserer Botschaft – und leider auch von unserem vermeintlichen Wissen über den anderen, dass wir uns nicht wirklich öffnen für das, was er oder sie sagt.
Dazu kommt, dass wir meist schon nach wenigen Worten zu wissen meinen, was der oder die andere sagen möchte, und haben – oft schon längst bevor die Person ausgesprochen hat – die eigene »Antwort« parat. Das heißt: Wir hören gar nicht richtig hin, sondern bringen lediglich unsere eigenen Argumente in Stellung. Und weil das leider auch in der Kirche ein ziemlich verbreitetes Phänomen ist, sagt Jesus: »Wenn Gott euch ein Paar Ohren gegeben hat, benutzt sie bitte!« Auch und gerade wenn ihr euch als »Kirche des Wortes« versteht, müsst ihr, bevor ihr selbst redet, erst einmal lernen, genau hinzuhören – das ist die seelsorgliche Kirche.
»Der Mensch hat zwei Ohren, aber nur einen Mund, damit er doppelt so viel höre wie er spricht.« Dieser alte Satz beinhaltet eine tiefe Wahrheit. Wir erinnern uns: Der »Taubstumme« in unserer Geschichte kann deswegen nicht »richtig reden«, weil er nie gehört hat, wie die Worte wirklich ausgesprochen werden. Richtig Reden lernt man nur durch Hören: An der Sprache der anderen entwickelt sich unsere eigene Sprache. Wer auf das Hinhören verzichtet, weil er eh glaubt zu wissen, was die anderen meinen, wird sehr bald an ihnen vorbeisprechen. Dass wir auf diese Weise selbst mit der allerbesten Botschaft der Welt den Anschluss an die Menschen verlieren, ist dann kein Wunder. Wir reden, aber wir reden »nicht richtig«. Wie sagte schon Martin Luther: »Man muss den Leuten aufs Maul schauen«, wenn man verstanden werden will.
Natürlich ist das Evangelium eine Botschaft, die sich der Mensch nicht selbst sagen kann. Allerdings haben wir diese Botschaft des Evangeliums auch als Kirche keineswegs in fixfertiger Weise. Wenn wir bei der Ausrichtung des Evangeliums nicht in lauter Banalitäten abgleiten wollen, brauchen wir dieses doppelte Hinhören: auf Gott und auf die Menschen. Wir dürfen niemals meinen, wir wüssten ein für alle Mal, was Gott denkt und wozu er uns beauftragt. Erst im beständigen Hören auf die Stimme Gottes lernen wir das »Herz Gottes« kennen. Und erst dadurch lernen wir, was wir im Auftrag Gottes sprechen sollen. Durch Hinhören auf Gott – aber eben auch durch Hören auf die Menschen. Denn nur, wenn wir verstehen, was sie im Tiefsten bewegt, wissen wir, für welche Botschaft und welche Kommunikationsform sie wirklich offen sind und für welche nicht.
Dazu kommt: Das Evangelium ist nicht eine Botschaft, die wir dem einen wie dem anderen in gleicher Weise sagen können. Einem Menschen, der in seiner Kindheit zuhause missbraucht wurde, kann ich nicht einfach Gott als »himmlischen Vater« verkündigen; ein Mensch, der leiblichen Hunger hat, wird für die Botschaft geistlicher Speise nur bedingt offen sein etc. Nicht nur die Art der Präsentation des Evangeliums ändert sich durch das Hinhören auf den anderen, sondern in gewisser Weise auch das Evangelium selbst. Das Evangelium ist so vielfältig wie ein Diamant: Je nachdem, welche Seite wir betrachten, erstrahlt es in einem anderen Licht.
Von dem 1994 verstorbenen Aachener Bischof Klaus Hemmerle stammt darum das wunderbare Wort: »Lass mich dich lernen, dein Denken und Sprechen, dein Fragen und Dasein, damit ich daran die Botschaft neu lernen kann, die ich dir zu überliefern habe.« Durch Hinhören erwerben wir uns nicht nur die Erlaubnis, selbst zu sprechen, sondern wir lernen auch, wie und was wir sprechen sollen.

Der dialogische Missionsauftrag

Menschen, die ungefragt ihre Meinung kundtun, gibt es in Hülle und Fülle. Die christliche Verkündigung hingegen ist ihrem Wesen nach dialogisch angelegt. Moment, fragen Sie vielleicht, haben wir als Kirche nicht einen klaren Missionsauftrag, also eine Botschaft, die wir der Welt zu verkünden haben? »Gehet hin in alle Welt und lehrt die Menschen, meine Jüngerinnen und Jünger zu sein.« Das klingt doch eher danach, als hätten wir als Christinnen und Christen eine Wahrheit, die es direkt weiterzugeben gilt. Wo soll da Platz für einen Dialog sein? Doch schauen wir, wie oft Jesus das Gespräch mit den Menschen suchte (viel öfter, als dass er predigte!) und wie vielfältig seine Zugänge waren, um den Menschen das eine Evangelium zu verkündigen. Oder betrachten wir die Art und Weise, wie Paulus den Missionsauftrag Jesu umsetzte.
In Apostelgeschichte 18,4 heißt es zum Beispiel, dass er in der Synagoge »lehrte«. Das klingt so, als hätte er gesprochen und alle anderen hätten zugehört. Aber das Verb, das hier steht, heißt »dialegere«: in den Dialog treten. Und es spricht einiges dafür, dass dies die bevorzugte »Missionsmethode« des Paulus war. Er ging nicht davon aus, dass er die »Wahrheit« in einer nicht mehr zu diskutierenden Weise zu präsentieren hätte. Sondern er brachte das, was er erkannt zu haben meinte, ins Gespräch und hörte genau hin, was seine Gesprächspartnerinnen an Argumenten, anderen Ansichten oder auch an individuell erlebten Geschichten einbrachten. Und darauf ging er dann wiederum ein.
Acts 18:4 LU
4 Und er lehrte in der Synagoge an allen Sabbaten und überzeugte Juden und Griechen.
Ähnliches gilt übrigens für den Begriff der »Evangelisation«: Das griechische Wort »euangelizesthai« ist grammatikalisch gesehen ein Medium, eine Verbform in der Mitte zwischen aktiv und passiv. Weder können wir Mission »machen«, noch sind wir dabei bloß Zuschauende. Wir sind ganz angewiesen auf Gott – und gleichzeitig handeln wir. Wir hören auf die Menschen – und bauen damit die Brücke, dass sie auch auf uns hören. Evangelisieren ist etwas höchst Interaktives, ein Vorgang zwischen Aktiv und Passiv, etwas, was sich im Modus des Gebens und Nehmens vollzieht.
Die These dieses Kapitels ist, dass unsere Verkündigung heute oft an den Menschen vorbeigeht, weil wir nicht genug bzw. nicht richtig hinhören. Jesus erteilt dem gerade geheilten Taubstummen ein Schweigegebot. Dies gilt sicherlich nicht für den Rest seines Lebens, aber doch für einige Zeit. Er muss erst einmal das Erlebte für sich verarbeiten und in sich reifen lassen. Außerdem muss er sich ins Hören einüben, um im Gespräch mit anderen die richtigen Worte zu treffen. Wenn Sie jemals einen Menschen von einem frischen religiösen Erlebnis haben schwärmen hören, dann wissen Sie, wovon ich rede. In geistlicher Hinsicht ist es selten sinnvoll, über etwas zu sprechen, über das man nicht vorher eine Weile geschwiegen hat. Wobei es nicht um ein bloßes Stummsein geht, sondern darum, erst einmal auf Gott und die Menschen zu hören.
Wie also könnte eine Kultur des Hörens in der Kirche aussehen? Drei Vorschläge dazu:
​Wir brauchen mehr Zeiten, Räume und Rituale, um alleine für uns das hörende Beten einzuüben. Zu diesem Hören gehören Meditation, das Lesen der Bibel und etwas, was ich als »hörende Fürbitte« bezeichne. Ein Mentor hat mir mal gesagt: »Rede nie mit einem Menschen über Gott, wenn du nicht vorher mit Gott über diesen Menschen geredet hast.« Wir können nur angemessen von Gott reden, wenn wir uns im Austausch mit ihm befinden. Wenn wir hinhören. »Spiritualität« ist deshalb der wichtigste Schlüssel für die Zukunft der Kirche. Dies ist freilich keine »natürliche« Fähigkeit. Sie bedarf eines Rabbis oder einer Rabba, bei denen wir eine Zeit lang in die Schule gehen, um genau diese Fertigkeit von ihnen zu erlernen. Mehr denn je brauchen wir in unserer Kirche Menschen mit einer »mystagogischen Kompetenz«: Lehrerinnen und Lehrer des Gebets, Meditationsanleiter und Lobpreisleiterinnen, Menschen, die uns zeigen, wie wir die Bibel lesen können etc. Um Gottes Stimme dauerhaft zu hören, ist Anleitung nahezu unumgänglich. Aber es ist nicht das Einzige. Zuerst und vor allem brauchen wir Heilung. Kein Mensch hat von sich aus offene Ohren für Gott. Wir brauchen es, dass Jesus uns sagt: »Öffne dich und werde heil!«
​Wir brauchen mehr Begegnungen als Veranstaltungen. Ich halte es für eine schlimme Verirrung, dass sich unsere Kirche mehr und mehr auf die sogenannte »Öffentliche Verkündigung« zurückzieht und alles, was im weitesten Sinn als »Beziehungsarbeit« zu verstehen ist, mehr und mehr zurückfährt. Rein von der Organisationslogik her betrachtet ist ein solches Vorgehen durchaus stimmig. Wenn es immer weniger Personal gibt, erscheint es logisch, dieses überwiegend zum Reden statt zum Hören einzusetzen. Schließlich kann man zu vielen Menschen gleichzeitig reden, zuhören aber kann man immer nur einem oder wenigen auf einmal. Und doch wird uns auf diese Weise das Schicksal des Taubstummen zuteil. Weil er nicht hören konnte, redete er »nicht recht«. Es ist zweifellos viel »effizienter«, öffentliche Reden zu halten (vorausgesetzt jemand kommt und hört zu), als Seelsorge zu betreiben, in Einzelbeziehungen zu investieren oder Menschen in kleinen Gruppen zum Bibellesen oder auch zur Mitarbeit anzuleiten. Und doch ist genau das die Zukunft der Kirche.
​Wir brauchen viel mehr Kontakte zu Menschen, die anders denken und anders glauben als wir selbst. Wir beschäftigen und unterhalten uns viel zu viel mit uns selbst und unseresgleichen statt mit den Menschen, die wir mit dem Evangelium erreichen wollen. Im 21. Jahrhundert aber werden die religiösen Themen weniger von den Antworten der Tradition bestimmt als vielmehr von den Fragen der Gegenwart. Darum brauchen wir in der Kirche auf allen Ebenen eine entschiedene, ja geradezu systematische Öffnung für die Menschen um uns herum – und für abweichende Meinungen in unserer Mitte. Wir brauchen analoge und digitale Kommunikationsräume, »Open Spaces«, Befragungen, Gespräche und eine Kultur der Wertschätzung abweichender Meinungen. Wir brauchen mehr Fragen als Antworten. Wir brauchen mehr Gebet als Aktionen und mehr Beziehungen als Veranstaltungen und Sitzungen. Statt vollmundig die großen Weltprobleme zu »lösen«, müssen wir die Ohren öffnen für das, was die Menschen um uns herum wirklich bewegt. Alles in allem brauchen wir weniger Bekehrungsversuche und stattdessen mehr Bereitschaft, uns selbst zu bekehren. Wir brauchen es, dass Jesus uns die Finger in die Ohren steckt und sein heilendes Wort zuspricht: »Hefata!«
Jesus tut in der Tat alles gut - und weil er das tut, sollten wir alles, was wir tun, nach bestem Vermögen tun, das er uns gibt, wenn wir ihn widerspiegeln sollen (1. Korinther 10,31).
1 Corinthians 10:31 LU
31 Ob ihr nun esst oder trinkt oder was ihr auch tut, das tut alles zu Gottes Ehre.
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