Apokalyptik (nach Michael Tilly)

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Begriff der Apokalyptik

Apokalypse bedeutet eigentlich “Enthüllung göttlicher Geheimnisse” (Tilly 9).
Heute wird der Begriff meist im Sinne von Weltuntergangsdarstellungen gebraucht (Tilly 10).
Das ist aber zumindest ungenau, weil Weltuntergangsszenarien bestenfalls einen Teil der biblischen Apokalypsen ausmachen (Tilly 10).

Merkmale

Apokalyptik resultiert aus dem Dilemma, dass die Welt als ungerecht empfunden wird und die Lebenssituation als unterträglich angesehen wird, gleichzeitig aber an der Allmacht und Güte Gottes festgehalten werden soll (Tilly 12).
Aus innerweltlichen Ereignissen wird kein Heil mehr erwartet, also richten sich die Hoffnungen auf eine jenseitige Welt (Tilly 12). Die Gegenwart dagegen erscheint als heillos, gottlos und verloren (Tilly 12).
Außerdem sieht man einen Bruch mit der Tradition und der bisherigen innergeschichtlichen Heilstradition (Tilly 13). Die Funktion der Apokalyptik ist also Trost zu vermitteln und Hoffnung auf eine bessere Zukunft (Tilly 13).
Die religiöse Aufgabe besteht darin, klarzumachen, dass Gott immer noch souverän und planvoll handelt, obwohl die Welt schlecht ist (Tilly 13). Häufig sind Mittlerfiguren notwendig, weil es keine direkte Kommunikation mit Gott mehr gibt (Tilly 14).
Oft sind es deshalb geschlossene fromme Gemeinschaften, die über die entsprechenden Offenbarungen exklusiv verfügen.
Apokalypsen sind regelmäßig auch mit Gerichtsvorstellungen verbunden, in denen gute und böse Taten im göttlichen Gericht belohnt oder bestraft werden (Tilly 14). In der Regel gibt es auch Vorstellungen von Auferweckung oder Auferstehung (Tilly 14). Damit wird die traditionelle Vorstellung verlassen, nach der der Tod alle Menschen gleich macht (Tilly 14).
Oft können dann auch nur die Mitglieder der eigenen Gemeinschaft gerettet werden (Tilly 52). In den meisten Fällen wird eine zeitliche Trennung zwischen dem gegenwärtigen Äon und einem zukünftigen vorgenommen. Daneben gibt es aber auch räumliche Trennungen (Himmel und Erde) (Tilly 15).
Für die Geschichtswahrnehmung entscheidend ist, dass Geschichte als determiniert (festgelegt) durch einen göttlichen Plan begriffen wird (Tilly 16).
Am Anfang der Geschichte und am Ende der Geschichte stehen umfassendes Heil. Dazwischen jedoch gibt es einen vollständigen Ordnungsverlust und große Not (Tilly 16).
Für apokalyptisches Denken typisch ist die Vorstellung, dass das kommende Heil in einer nachzeitlichen Periode außerhalb der Geschichte stattfindet (Tilly 17). Häufig gilt die eigene Gegenwart als Höhepunkt des Wirkens widergöttlicher Mächte erlebt (Tilly 17). Diese Phase ist aber gleichzeitig ein sinnvoller Teil des göttlichen Geschichtsplans (Tilly 17).

Apokalyptik und Prophetie

Im Unterschied zur Apokalytpik ist die alttestamentliche Prophetie davon überzeugt, dass Gott heilvoll innerhalb der Geschichte eingreift. Die Apokalyptik erwartet dagegen Heil grundsätzlich nur von außen und außerhalb der Geschichte (Tilly 20).
Aus der Weisheitstradition übernimmt die Apokalyptik das Theodizee-Problem.
Die Weisheit ist aber daran interessiert, wie die Welt funktioniert, während die Apokalyptik an der Zukunft orientiert ist (Tilly 20). Gemeinsam sind Weisheit, Prophetie und Apokalyptik aber, dass es ihnen um die Deutung und Vermittlung des Gotteswillens geht (Tilly 21). Die Fragerichtung ist nur unterschiedlich: Die Prophetie fragt, wie in der Gegenwart richtig gehandelt werden kann, um zukünftiges Unheil zu verhindern, die Weisheit fragt danach, wie sich der ewige Wille Gottes aus Schöpfung und Geschichte ermitteln lassen, die Apokalyptik dagegen sucht übernatürliche Offenbarung, um zu erfahren, wie es nach der Welt weitergeht.
Die Prophetie hat selbst eine wesentliche Wandlung durchgemacht: Die Propheten seit dem 8. Jahrhundert rufen zur Umkehr auf und warnen vor einem strafenden Eingreifen Gottes. In der Exilszeit haben sich diese Warnungen schon bewahrheitet und es geht jetzt darum, in der schwierigen gegenwärtigen Zeit Heil für die Zukunft vorauszusagen (Tilly 22). Hier geht es vor allem um eine nationale Zukunft des Volkes Israel in politischer Hinsicht (Tilly 22).
Die nachexilische Heilsprophetie (Haggai, Sararja) dagegen rechnet nur noch mit der Rettung eines gerechten Rests Israels und prophezeit für die Zukunft eine Umkehr der irdischen Verhältnisse (Statusumkehr) (Tilly 22).
Allen Propheten gemeinsam ist aber, dass das zukünftige Heil sich innerhalb der Welt und innerhalb der Geschichte vollziehen wird. Eben dies glauben die Apokalyptiker nicht mehr (Tilly 22). Grund dafür ist die Enttäuschung darüber, dass die Heilszusagen der Propheten nicht eingetroffen sind (Tilly 23).

Apokalyptik und Weisheit

Mit der Weisheit teilt die Apokalyptik das Motiv der Gerechtigkeit Gottes, an der grundsätzlich festgehalten wird (Tilly 24).
Die ältere Weisheit vermittelt dabei auf der Grundlage lebenspraktischer Beobachtungen ein nützliches Erfahrungswissen. Sie versucht auch, den Aufbau der Welt zu verstehen, um daraus praktische Ratschläge abzuleiten (Tilly 24).
Sie geht dabei durchgängig von einem Tun-Ergehens-Zusammenhang aus, nach der sich gutes Handeln auszahlt und schlechtes Handeln zu innerweltlichen Nachteilen führt (Tilly 24).
In der Exilszeit treten zunehmend Diskrepanzen zur erlebten Wirklichkeit ins Bewußtsein. Die eigene Lebenswirklichkeit wird als instabil und prekär erlebt, was dem Tun-Ergehens-Zusammenhang widerspricht (Tilly 25).
Die jüngere Weisheit tendiert deshalb entweder zu resignativer Anerkennung, dass der göttliche Wille nicht erkennbar ist, oder verschiebt die Belohnung für gutes Handeln in die Zukunft (Tilly 25).
Gleichzeitig wird zunehmend eine Diskrepanz zwischen der Erwählung Israels und seiner gegenwärtigen Lage erlebt (Tilly 25). In der Apokalyptik führt das dann dazu, dass ein vollständiger Bruch mit der bisherigen Heilstradition behauptet wird. Die Auflösung des Tun-Ergehens-Zusammenhang führt dann zu einer Verschärfung der Theodizee-Frage (Tilly 26). Dieses Problem versucht die Apokalyptik durch den Geschichtsdeterminismus zu lösen.

Die apokalyptische Bewegung im antiken Judentum

In der nachexilischen Zeit war die Vorstellung einer innerweltlichen Heilsgeschichte Israels nicht mehr vermittelbar (Tilly 36). Es gab einfach zu viele Diskrepanzen zur erlebten Wirklichkeit.
Vor allem der Hellenismus führt hier zu einer entscheidenden Wende. Insbesondere die Religionskrise unter Antiochus IV. (Epiphanes) führt zu einer Spaltung zwischen Befürwortern und Gegnern des Hellenismus (Tilly 39f.). In dieser Zeit wird der Tempel zu einem wesentlichen Identifikationssymbol für das Erbe des Judentums (Tilly 37). Außerdem wird die Tora zu einer wesentlichen Grundlage für die Aufrechterhaltung der jüdischen Gruppenidentität (Tilly 38).
In der makkabäischen Krise entsteht die Apokalyptik als Versuch, eine sinnstiftende Deutung der Gegenwart zu entwickeln. Denn zur Zeit von Antiochus Epiphanes versuchen Teile der Jerusalemer Tempelaristokratie Jerusalem gewaltsam in eine hellenistische Metropole zu verwandeln (Tilly 39). Dagegen richtet sich der Widerstand der Makkabäer, der aber auch nicht überall auf Zustimmung stößt. In dieser Zeit der innerjüdischen Auseinandersetzungen verschärft sich die Theodizee-Frage und das Bedürfnis nach einer eschatologischen Geschichtskonzeption, die in der gegenwärtigen Krise eine stabilisierende Hoffnungsperspektive vermitteln soll (Tilly 40).
Sozial gesehen war die Jerusalemer Priesterschaft seit dem 5. Jahrhundert die einzige noch organisierte Gruppe im Volk Israel (Tilly 40).
Spätestens in der hellenistischen Zeit kommt es aber in der prophetischen Literatur zunehmend zu Kritik an diesem Alleinvertretungsanspruch (Tilly 40f.). Demgegenüber versucht die Apokalyptik eine Orientierung durch transzendentes Wissen zu erlangen (Tilly 41). Sozial spiegelt sich darin auch die Erfahrung ehemals wichter Gestalter des religiösen und gesellschaftlichen Lebens, die durch die herrschenden Eliten an den Rand gedrängt wurden (Tilly 43).

Motive von Apokalypsen

Um ihre Verankerung in uraltem Wissen zu verstärken, bedienen sich Apokalypsen häufig der Pseudepigaphie. D.h. die Geschichte wird in die weite Vergangenheit verlegt und Autoren aus dieser Zeit zugerechnet (Tilly 49).
Oft wird auch eine sehr bildhafte und mythologische Sprache benutzt und apokalyptische Botschaften werden durch Bilder verschlüsselt (Tilly 50f.). Gelegentlich kommen auch rätselhafte Symbole und Allegorien zum Einsatz. Die Aussagen der Apokalypsen werden häufig durch Vaticinia ex eventu, also Prophezeiungen, die inzwischen schon eingetreten sind, bestätigt (Tilly 51).
Apokalypsen arbeiten in der Regel mit einem starken geschichtlichen und kosmischen Dualismus: Es gibt gegeneinander kämpfende Mächte und gegensätzliche Weltzeitalter (Äonen). Gegenübergestellt wird die diesseitige böse Welt und die jenseitige gute Welt.
Es gibt eine klare Trennung zwischen den göttlichen und den widergöttlichen Mächten und den Frommen und den Ungerechten (Tilly 51). Oft wird auch mit Metaphern von Licht und Dunkelheit gearbeitet (Tilly 51).
In kosmischer Hinsicht steht dem gegenwärtigen Chaos die ursprüngliche Schöpfung gegenüber (Tilly 52). Typisch ist auch das Kairos-Motiv, in dem dazu aufgerufen wird, die Restzeit konsequent im Hinblick auf das Endgericht zu nutzen und trotz gegenwärtiger Bedrängnis auszuharren (Tilly 53).

Apokalyptik in der antiken jüdischen Literatur

Die apokalyptische Literatur entsteht in der spätnachexilischen und hellenistisch-römischen Zeit (Tilly 57).
In der Regel ist sie dezidiert antihellenistisch und versucht, der Bedrohung der religiösen Identität durch den Hellenismus zu begegnen (Tilly 57).
Es gibt aber wesentliche Voraussetzungen in der jüngeren Prophetie: Schon bei Jesaja und Ezechiel gibt es die Vorstellung eines neuen Exodus und das Motiv des neuen, ewigen Bundes. Die ursprünglich geschichtlich-konkret vorgestellten Gerichshandlungen Gottes, also die Vernichtung der Feinde Israels, werden jetzt universalisiert und eschatologisiert. D.h. das Gericht Gottes gilt jetzt allen Menschen, bewirkt eine Scheidung innerhalb von Israel und findet in der weiten Zukunft statt (Tilly 58).
Ursprünglich dachte man immer im Gegenüber von Israel und den fremden Völkern. Dieser Dualismus weicht jetzt zunehmend der Gegenüberstellung von Gerechten und Ungerechten über alle Völkergrenzen hinweg (Tilly 58).

Daniel

Daniel ist die älteste und wirkmächtigste apokalyptische Schrift des antiken Judentum (Tilly 59)
Daniel zeichnet das Idealbild eines jüdischen Frommen, der der Religion unter widrigen Umständen treu bleibt. Gleichzeitig wird ein universaler göttlicher Plan und ein Geschichtsdeterminismus entwickelt (Tilly 59).
Die Handlung des Buches spielt im babylonischen Exil. Geschrieben ist es aber in der hellenistischen Zeit (ca. 167 v. Chr.). Es spiegelt die makkabäische Krise, die zu Spaltungen in Israel geführt hat (Tilly 61).
Kernpunkt ist der Untergang von Weltreichen (Dan 2 und Dan 7) (Tilly 60). Gott ist Richter der gesamten Völkerwelt und lenkt die Weltgeschichte (Tilly 60). Vier Imperien werden benannt: das babylonische, das medische, das persische und das griechische (Tilly 61).
In der Situation der Verfolgung der Gerechten will das Danielbuch eine Antwort auf das Theodizee-Problem finden und Trost durch die Lehre von der postmortalen ausgleichenden Gerechtigkeit und der Auferstehungshoffnung vermitteln (Tilly 61).
Für das NT besonders interessant ist die Figur des Menschensohnes, der als endzeitlicher Herrscher auftritt (Tilly 60). Diese Motive werden bei Henoch und 4 Esra wieder aufgenommen.
Der Menschensohn ist hier aber noch ein Kollektivsubjekt und keine Einzelfigur (Tilly 60). Insbesondere die Johannesoffenbarung ist durch Daniel stark beeinflusst worden (Tilly 62).

Äthiopisches Henochbuch

Das äthiopische Henochbuch ist in seinen ältesten Bestandteilen älter als das Danielbuch (Tilly 63). Sie spiegeln die Krise unter Antiochus IV. (Epiphanes) (Tilly 63). Antiochus und führende Vertreter der Priesteraristokratie wollten Jersualem in eine hellenistische Metropole umgestalten und die traditionelle jüdische Religion aufheben. Dagegen erhebt sich der Widerstand der Makkabäer.
Gesammelt und verschriftlicht wurde das Henochbuch aber erst im 1. Jahrhundert n.Chr. (Tilly 63).
Das Henochbuch erklärt das Böse in der Welt damit, dass eine Gruppe von Wächterengeln vom Himmel herabgestiegen sind und sich mit den Menschentöchtern verbunden haben. Diese unzulässige Vermischung der himmlischen und irdischen Sphäre hat Sünde und Unheil in die Welt gebracht. (Tilly 63).
Teilweise tritt auch hier die Gestalt des Menschensohnes als endzeitliche Erlösergestalt auf (Tilly 63).
Auch Henoch tröstet mit der Aussicht auf postmortale Belohnung für die Gerechten und einer entsprechenden Bestrafung der Ungerechten (Tilly 64). Auch eine Auferstehungshoffnung findet sich bei Henoch (Tilly 64).

Jubiläenbuch

Das Jubiläenbuch ist im 2. Jahrhundert v. Chr. entstanden (Tilly 70) und spiegelt die Krise unter Antiochus IV. (Tilly 70).
Beklagt wird, dass der Tun-Ergehens-Zusammenhang nicht mehr funktioniert (Tilly 71).
Dem steht die Hoffnung gegenüber, dass es am Ende des göttlichen Geschichtsplanes eine Neuschöpfung und eine universale Herrschaft Gottes geben wird (Tilly 71). Zuvor muss es jedoch eine Phase des ultimativen Zusammenbruchs geben, die mit Antiochus IV. erreicht ist. Das ist aber die Schwelle für den Anbruch der Gottesherrschaft (Tilly 71).
In der Endzeit wird es dann auch ein göttliches Gericht geben, das für die Gerechten ewiges Leben, für die Ungerechten und die nichtjüdischen Feinde Israels Vernichtung bring (Tilly 71).

Syrisches Baruchbuch

Das syrische Baruchbuch reagiert auf die Krise, die durch die Tempelzerstörung 70 n.Chr. entsteht (Tilly 72). Vermutlich ist es im ausgehenden ersten Jahrhundert n.Chr. entstanden. (Tilly 73).
Titelfigur ist Baruch, der Schreiber des Propheten Jeremia. Ihm werden verschiedene Visionen und Auditionen zuteil, die das kommende Ende des Jersualemer Tempels ankündigen (Tilly 73). Die Zerstörung des Tempels erscheint dabei als Teil des göttlichen Geschichtsplanes (Tilly 73). Die ursprünliche Heilsbedeutung des Tempels wird auf ein transzendentes (also himmlisches) Pendant übertragen, das gleichzeitig als präexistent beschrieben wird (Tilly 74).
Nach Baruch gibt es eine Entsprechung des Handelns im gegenwärtigen Äon mit dem Ergehen im kommenden Äon. Damit korrespondieren entsprechende Gerichtsvorstellungen (Tilly 74).
Es gibt auch die Vorstellung vom Kommen eine endzeitlichen Messias, der die Völker richten wird (Tilly 74).

4 Esra

Das 4. Buch Esra ist eine jüdische Schrift, die auf die Tempelzerstörung 70 n.Chr. reagiert (Tilly 75). Geschrieben wurde es um das Jahr 100 n.Chr.. Die Handlung spielt aber im 6. Jahrhundert v. Chr. nach der Zerstörung des salomonischen Tempels (Tilly 76).
Thematisch versucht Esra eine theologische Vermittlung der Thoraobservanz mit der Theodizeefrage (Tilly 75). Im Mittelpunkt steht die Frage, ob Gott sein Volk verworfen hat. Esra bekommt die Offenbarung, dass die Wege Gottes für die Menschen nicht erkennbar sind, dass es aber für die Frommen ein umfassendes Heil in der Zukunft geben wird (Tilly 77).
Nachdem Esra aufgehört hat, an Gott zu zweifeln und seine Schuld eingestanden hat, gelangt er zu der Einsicht, dass man die weltordnende Macht und Gerechtigkeit Gottes vorbehaltlos anerkennen muss (Tilly 77).
Am Ende wird es aber eine finale Äonenwende geben, in der der Messias auftritt und ein endzeitliches Gericht durchführt. Die Gerechten werden dann allein aufgrund ihres Gehorsams gegenüber dem jüdischen Gesetz Erlösung bekommen (Tilly 77f.).
Esra versucht dabei eine Vermittlung zwischen der Vorstellung, dass das Heil einerseits nur durch göttliche Gnade, andererseits aber auch durch eigenverantwortliche Toraobservanz in die Welt kommt (Tilly 78).

Messiaserwartung und Apokalyptik

Ursprünglich bezeichnet das hebräische Wort משׁיח, das dann griechisch mit χριστός übersetzt wird, einen Gesalbten. Durch rituelle Salbung wird ein Priester in sein Amt eingesetzt (Tilly 81). In der Exilszeit wurde der Messiastitel dann dem Hohepriester übertragen (Tilly 81).
In der Exilszeit verschmilzt die Vorstellung des besonderen Gottesverhältnis des Gesalbten mit der Vorstellung vom idealen König in der Persons Davids. Dieser gesalbte König wird als endzeitlicher Idealherrscher als Gegenbild zu den politischen Verhältnissen der Gegenwart stilisiert (Tilly 82).
Ursprünglich war dies als eine innergeschichtliche Entwicklung verstanden, verlagert sich in der Vorstellung aber zunehmend zur Konzeption einer zukünfiten Epoche der Gerechtigkeit und des Friedens (Tilly 82).
Die Vorstellung des idealen davidischen Königs verbindet sich im Laufe der Zeit mit dem Konzept der Gottessohnschaft. Der Sohn Gottes wird eine endzeitliche ewige Herrschaft begründen (Tilly 82).
In der apokalyptischen Literatur des antiken Judentums tritt der Messias durchweg als ein entscheidender Funktionsträger beim Anbruch des Reiches Gottes auf (Tilly 83).
Die messianische Zeit ist aber noch nicht die endzeitliche Heilszeit, sondern geht ihr noch voraus (Tilly 83). (vgl. das tausendjährige Reich in der Johannesoffenbarung)
Die christliche Vorstellung eines leidenden und sterbenden Messias kollidiert mit diesem Konzept eines herrschenden Messias (Tilly 83).

Apokalyptik im frühen Christentum

Die Apokalyptik stellt eine wichtige Brücke zwischen den frühjüdischen und christlichen Traditionen dar (Tilly 88). “Ohne Bezugnahme auf die jüdische Apokalyptik lassen sich weder die Jesusbewegung, noch das frühe Christentum umfassend verstehen” (Tilly 88).
Der entscheidende Unterschied besteht aber darin, dass das Christentum die entscheidende Wende zum Heil nicht in der Zukunft oder in einer außergeschichtlichen Zeit veortet, sondern annimmt, dass die entscheidende Wende bereits eingetreten ist (Tilly 88, 90f.). Nach der Auferweckung Jesu läuft zwar die Geschichte im Prinzip weiter, sie ist aber jetzt völlig neu qualifiziert und neu strukturiert (Tilly 91). Die christliche Gemeinde avanciert dabei zunehemd zum innerweltlichen Ort der Heilsgegenwart (Tilly 91).
In der Erwartung eines nahen Endes der gegenwärtigen Welt und in der Hoffnung auf Auferstehung werden aber zentrale apokalyptische Motive aufgegriffen (Tilly 89). Für die frühen Christen ist die Auferweckung Jesu eine entscheidendes Zeichen für den Anbruch der eschatologischen Herrschaft Gottes (Tilly 89).
Durch die Parusieverzögerung wird die ursprüngliche Naherwartung aber in eine Stetserwartung umgewandelt (Tilly 89).
Durch den Tod Jesu kommt es zu einer Transformation traditioneller Endzeiterwartungen. An die Stelle eines nationalen und kriegerischen Messias tritt die Gestalt eines leidenden Messias, der durch ein stellvertretendes Sühneopfer göttliche Gnade und Gerechtigkeit vermittelt (Tilly 89).
Die ursprüngliche Naherwartung führt dazu, dass viele Christen materielle Bedürfnisse und Familiengründung als sinnlos betrachteten und einen Statusverzicht bzw. die Relativierung der gegenwärtigen hierarchischen Strukturen lehren (Tilly 90).

Apokalyptik im Neuen Testament

Für die frühen Christen war die Auferstehung Jesu eine nachträgliche Legitimierung seiner öffentlichen Lehrtätigkeit (Tilly 92). Motive der jüdischen Apokalyptik werden in diesem Zusammenhang instrumentalisiert, um die eigene Theologie zu legitimieren (Tilly 92).
Wesentliche Themen sind dabei die baldige Parusie ( 1 Thess 4; 1 Kor 15), die aktuelle Erfahrung von Bedrängnis (Mk 13; Apk 2, 2 Thess 1), und der drohende Abfall von Teilen der Gemeinde (Tilly 92).
Johannes, der Täufer, verstand seine Taufe schon als Zeichenhandlung, die ein einmaliges Gnadenangebot Gottes darstellt (Tilly 93). Jesus, als Schüler von Johannes, übernimmt diese Vorstellung wahrscheinlich (Tilly 93).
Johannes und Jesus teilen die Vorstellung von einem radikalisierten deuteronomistischen Geschichtsbild, einer generellen Schuldhaftigkeit Israels, eines endzeitlichen Einschreitens Gottes und seines Gerichts über die sündige Welt.
Beide stimmen auch darin überein, dass die gegenwärtige Generation sich nicht auf frühere Erwählung durch Gott verlassen kann [Abrahamsbund] (Tilly 93). Johannes und Jesus gehen auch beide davon aus, dass für das Heil eine individuelle Umkehr notwendig ist, wenn man im künftigen Gottesgericht bestehen will (Tilly 93).
Das endgültige Heil ist wie in der jüdischen Apokalyptik kein Bestandteil der Geschichte, sondern ein nachgeschichtlicher Zustand (Tilly 94).
Im Unterschied zu Johannes betont das frühe Christentum aber, dass es nicht zu einer Vernichtung der gegenwärtigen Welt kommen wird, sondern zu einer Verwandlung durch den schon angefangenen dynamischen Prozess (Tilly 94). Dabei wandelt Gott selbst das Unheilskollektiv Israels durch eine Neuschöpfung in ein Heilskoellektiv um (Tilly 94). Das Gericht trifft aber die, die dieses Heilsangebot ablehnen (Tilly 94).
In den Evangelien ist das Gottesreich einerseits schon präsent (präsentische Eschatologie), anderseits aber auch ein zukünftiges Geschehen der Vollendung (futurische Eschatologie) (Tilly 95). Die Heilungen und Exorzismen von Jesus sind Zeichen dafür, dass das Gottesreich bereits angefangen hat (Tilly 95). In den Mahlgemeinschaften mit gesellschaftlich Deklassierten demonstriert Jesus, dass das Gottesreich die gesellschaftlichen Schranken aufheben und eine neue Gerechtigkeit aufrichten wird (Tilly 95).
Möglicherweise war Jesus überzeugt, dass er durch seinen Tod den Anbruch dieser Gottesherrschaft bewirken könne (Tilly 95).

Apokalyptik bei Paulus

Die Grundfrage bei Paulus lautet: Wie kann angesichts des nahen Zorngerichts Gottes über die ganze Menschheit noch jemand gerettet werden (Tilly 96). Die Antwort liegt im Osterglauben (also in Tod und Auferstehung) (Tilly 96).
Nach Paulus (1 Thess) sind die Christen bereits jetzt aus dem allgemeinen Unheilszustand der Welt herausgenommen. Gleichzeitig gehen sie mit Gewißheit einem zukünftigen Heil entgegen (Tilly 97). Die ursprünglich zeitliche Differenzierung zwischen verschiedenen Äonen der Weltgeschichte wird bei Paulus in eine innergeschichtliche Erwählungs- und Entscheidungssituation umgedeutet (Kairoskonzept) (Tilly 97). Die Christen nehmen jetzt schon Teil an einer transzendenten (himmlischen) Gegenwelt (Tilly 97).
In 1 Kor 15, 20-23 macht Paulus klar, dass es einen klaren Zusammenhang zwischen der Auferweckung Jesu und der künftigen Auferweckung der Christen gibt. Im 2. Korintherbrief wird dieses Konzept weiter ausgearbeitet und der Gedanke entwickelt, dass die Christen schon jetzt in der heillosen Welt bewahrt werden und gleichzeitig an die künftige Auferstehung hoffen dürfen (Tilly 98).
Im Römerbrief entwickelt Paulus dann die Lehre, dass Juden und Nichtjuden gleichermaßen dem göttlichen Gericht verfallen sind und niemand sich durch die Werke des Gesetzes selbst rechtfertigen kann. Nur durch die Barmherzigkeit Gottes kann die Sünde entmachtet und Gerechtigkeit wieder hergestellt werden (Tilly 98).

Apokalyptik der der nachpaulinischen Briefliteratur

In der nachpaulinischen Briefliteratur wird die Endzeiterwartung zunehmend individualisiert, gilt also nur noch für Einzelne. Die enthusiastische Naherwartung weicht einer Vorstellung von einer größeren zeitlichen Dehnung der Ereignisse (Tilly 100).
Die zeitliche Abfolge von Äonen weicht zunehmend einer räumlichen Trennung (zwischen Himmel und Erde), wird also zunehmend als transzendent erfahren (Tilly 100). Die Gläubigen haben jetzt schon Anteil an diesem transzendenten Heil (Tilly 100). Im 1. Johannesbrief wird dann ein umfassender Dualismus zwischen Licht und Finsternis entwickelt, die den Gegensatz zwischen der Dunkelheit der alten Welt und dem Licht der neuen Schöpfung widerspiegelt (Tilly 101).

Apokalyptik in den Evangelien

Markus

Bei Mk gilt das Reich Gottes bereits als gegenwärtig und das Weltende ist bereits terminiert (Tilly 101). Der transzendente Menschensohn ist eine himmlische Figur, der in der Endzeit die Macht übertragen wird und der eine Gericht an der Welt durchführen wird (Tilly 101). Die apokalyptische Dimension wird insbesondere in der Passion mit der Finsternis bei der Kreuzigung und der Spaltung des Tempelvorhangs deutlich gemacht (Tilly 101).
Die sogeannte Endzeitrede (Mk 13) soll aber die Gemeinde vor dem Mißverständnis bewahren, dass der jüdische Krieg und die Zerstörung des Tempels die unmittelbar bevorstehende Parusie ankündigt (Tilly 102).

Matthäus

Im Mt wird das Christusgeschehen als endzeitliche Erfüllung biblischer Prophezeiungen gewertet (Tilly 102). Für die nahe Zukunft wird der Anbruch der Königsherrschaft Gottes erwartet (Tilly 102). Dies ist verbunden mit einem endzeitlichen Gericht, dass eine individuelle Scheidung zwischen Gerechten und Gottlosen durchführen wird (Tilly 102).
In Mt 8,11f. wird das im Bild eine Freudenmahles ausgedrückt, zu dem die Gerechten geladen sind, während die Gottlosen sich selbst davon ausgeschlossen haben (Tilly 103). Die Christen sind in der Zwischenzeit dazu aufgerufen, geduldig und wachsam zu bleiben und ihre christliche Existenz aktiv zu gestalten, da das Gottesreich jederzeit und plötzlich anbrechen kann (Tilly 103).

Lukas

Bei Lk und in der Apostelgeschichte rückt das Weltende bereits in weite Ferne (Tilly 103). Lk versucht die zunehmend problematisch werdende Parusieerwartung zu entschärfen, indem er einen Geschichtsenwurf entwickelt, indem die Zeit Jesu und die Zeit der Kirche schon eine qualifizierte Heilszeit sind (Tilly 103).
Apokalyptische Motive finden sich im LK und in der Apg aber im Motiv eine endzeitlichen Widersachers Christ (Antichrist) und einer kommenden kosmischen Katastrophe (Tilly 103).
Die Auferstehung ist für Lk aber schon nicht mehr als Anbruch der Endzeit verstanden, vielmehr ist das Reich Gottes schon angebrochen in der Zeit der Kirche.

Johannes

Für Johannes ist der endzeitliche Sieg Gottes über das Böse verknüpft mit der gegenwärtigen Heilszeit. Das Wirken des irdischen Jesus ist eine eschatologische Rettungstat Gottes und gleichzeitig die Grundlage für den Glauben der Menschen (Tilly 103).
Bei Johannes zeigen sich dezidierte Motive der Apolkalyptik, wenn er davon ausgeht, dass sich in der Endzeit die bis dahin transzendente Wahrheit offenbaren wird, dass die Geschichte sich linear und determiniert entwickelt und die Toten auferstehen werden, um dann gerichtet zu werden (Tilly 104).
Auch der schroffe Dualismus zwischen Gut und Böse, Wahrheit und Lüge, Leben oder Tod ist apokalyptisch geprägt (Tilly 104).
Das für die Zukunft erwartete Heil ist für Johannes eine bereits in der Gegenwart verborgene Wirklichkeit, die in der Gemeinde durch den Parakleten (Tröster) als Beistand der Gemeinde realisiert wird (Tilly 104).
Für Johannes vollzieht sich auch das Gericht bereits in der Gegenwart durch die Scheidung der Gläubigen und der Ungläubigen. Für die Gläubigen ist also das Gericht bereits Vergangenheit (Tilly 104f.) Deshalb ereignet sich auch die Auferstehung bereits in der Gegenwart (Tilly 104).

Apokalyptik in der Johannesoffenbarung

Die Johannesoffenbarung gibt sich als Spezialoffenbarung vermittels Visionen und Auditionen aus, die der Seher von Patmos erhalten hat. In einer als krisenhaft erlebten Gegenwart wird dem Seher Einblick in die zukünftige Verheißung und der baldigen Wiedekehr Christ gewährt (Tilly 106). In diesem Zusammenhang werden traditionelle frühjüdische und biblische Motive im Horizont aktueller Entwicklungen neu interpretiert (Tilly 106).
Das zugrundliegende Problem ist, dass es einen Loyalitätskonflikt der christlichen Gemeinden zwischen ihrem Glauben und der hellenistisch-römischen Kultur gibt. Auslöser ist der Kaiserkult der letzten Regierungzeiten von Kaiser Domitian (81-96 n.Chr.). Die Christen müssen sich konsequent entscheiden, entweder der hellenistischen Mehrheitskultur zu folgen und in ihr aufzugehen, oder sich im Rückgriff auf ihre Traditionen selbst gesellschaftlich zu marginalisieren.
In diesem Zusammenhang möchte Johannes die Gemeinden stärken und davon überzeugen, dass ein siegreiches Ende der Gläubigen bevorsteht, wenn sie standhaft bleiben und passiven Widerstand üben gegenüber der Mehrheitskultur (Tilly 106).
Zu diesem Zweck entwickelt Johannes eine Geschichtstheologie, in der vor der Heilszeit notwendig eine Zeit der Bedrängnis entsteht. Diese Zeit der Bedrängnis wird in drei Siebenerzyklen entwickelt (sieben Siegel, sieben Posaunen, sieben Schalen), die die Abfolge in der Bedrängniszeit darstellen (Tilly 107).
In der unmittelbar bevorstehenden Endzeit wird ein Antichrist auftreten und Anhänger gewinne, die dann aber im nachfolgenden Gericht bestraft werden (Tilly 107).
Am Ende der Endzeit werden dann alle gottfeindlichen Mächte besiegt und die Märtyrer werden wieder auferstehen. Gleichzeitig kommt es zur einer Parusie Christi, der das Gericht durchführen wird, von dem nur die endzeitliche Heilsgemeinde verschont wird (Tilly 107).
Am Ende steht dann ein umfassendes Heil mit einem neuen Himmel und einer neuen Erde. Im himmlischen Jerusalem wird dann die Trennung zwischen Gott und Mensch umfassend überwunden und Gott wohnt wieder unter den Menschen (Tilly 107).
Anders als in der traditionellen Apokalyptik ist der Sieg über die gottesfeindlichen Mächte aber für Johannes eigentlich schon erfolgt. Im Christusgeschehen hat also das endzeitliche Heil verborgen bereits angefangen und ist für die Gläubigen schon erfahrbar (Tilly 108).
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