Wisst ihr noch, wie es geschehen? (Liedpredigt)
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→ Lied singen EG 52: Wisst ihr noch, wie es geschehen?
I. Einstieg
I. Einstieg
Wisst ihr noch, wie es geschehen?
Text: Hermann Claudius 1939
Melodie: Christian Lahusen 1939
So heißt es in dem gerade gesungenen Lied.
Und, wisst ihr es? Ihr wisst es, weil wir es gerade in der Lesung erzählt bekommen haben und weil wir es gesungen haben.
Wenn ich ehrlich bin und in mich gehe, muss ich sagen: Nein. Ich weiß es nicht. Denn ich war nicht dabei. Ich habe den Stern in der dunklen Nacht nicht gesehen und ich bin auch nicht zur Krippe geeilt.
Aber mir wurde davon erzählt. Jahr um Jahr zu Weihnachten in den Liedern, den Lesungen und in der Predigt wurde mir davon erzählt. „Alle Jahre wieder …“
Wir leben von einem Glauben, den wir uns in Erzählungen und im Tun lebendig halten. Immer wieder erzählen und vergewissern wir uns, was uns im Leben trägt und Hoffnung gibt. Doch was sind meine Erwartungen und was ist meine Hoffnung? Was hoffst du?
II. Meine Erwartungen und Hoffnungen.
II. Meine Erwartungen und Hoffnungen.
Die Erwartungen zur Weihnachtszeit sind höchst unterschiedlich. Wenn ich an meine Kindheit zurückdenke, dann waren es hauptsächlich Geschenke und die gemeinsam verbrachte arbeits- und schulfreie Zeit um Heilig Abend, auf die wir uns gefreut haben. Geschenke als Zeichen der Zuneigung und Verbundenheit. Und ja: auch Omas Socken können ein Zeichen der Zuneigung sein.
Zuweilen wird die Hoffnung auf ein friedliches Beisammensein durch den berühmten Streit an Heilig Abend aufgehoben. Man kann Differenzen nicht durch romantische Überspielung verdrängen. So überdeckt das Weihnachtsfest auch nicht all die anderen Krisen und Herausforderungen.
Wir erzählen uns jedoch von einer Hoffnung, die das Weihnachtsfest durch die Zeiten hindurch überdauert. Friede, Hoffnung, Freude und Licht für die Welt. Auch für unsere kleine intime Lebenswelt. Das ist der Kern der Weihnachtsbotschaft, die Jesus in die Welt gebracht hat und an die wir uns in der Weihnachtszeit Jahr um Jahr erinnern.
Wisst ihr noch, wie es geschehen?
Auch wenn diese wunderbare Hoffnung auf eine bessere Welt zuweilen in den Hintergrund gerät und als zu abstrakt, zu wunderbar und zu illusorisch verdrängt wird. Wenn das schon nicht mit Geschenken und Familienfrieden klappt, wie dann mit den großen Hoffnungsversprechen? Was ist mit der Stille vom Lärm, der täglich auf uns einströmt, dem staunenden Leuchten der Augen und dem echten Weihnachtsfrieden?
Ich erwarte an Weihnachten mehr als Geschenke und Familienfrieden. So viel größer ist die Botschaft, die wir Jahr um Jahr mit so viel Aufwand feiern und ab den Sommerferien - spekulierend - konsumieren müssen. Weihnachten ist nicht nur ein Spektakel, so hoffe ich. Ich warte und hoffe darauf, dass sich das Leben um mehr dreht als um die jeweils eigene Person.
Wir leben in einer Zeit, einer Welt, die nicht gesund ist - und die es wohl nie war. Es gibt und gab immer schon die Verletzungen und Kriege des Lebens. Es gab keine Zeit in der Geschichte, in der weltpolitisch oder auch in den eigenen Familien alles gut war. So manch eine Krankheit lässt einen in sich selbst und um sich selbst drehen, ohne auf das schauen zu können, was man machen möchte, wenn man wieder heil ist.
Wer keine Hoffnung hat, hat kaum einen Grund, gestaltend voranzugehen. Das trifft auch auf uns und unsere Kirche zu.
III. Das Lied und der Autor - zwiegespalten!
III. Das Lied und der Autor - zwiegespalten!
In dem Weihnachtslied von 1939, dem Jahr des Kriegsbeginns des Zweiten Weltkrieges, heißt es: „Wisst ihr noch, wie es geschehen“? Die Naziherrschaft und das Vorgehen gegen Juden sowie Andersdenkende war längst im Gange. Eine Zeit, in der Stille, Leuchten und Friede weit weg waren.
Das Lied singe ich aus vollem Herzen und doch sehr zwiegespalten. Ich will euch erzählen, warum. Ich erlebe in dem Lied eine Spannung zwischen dem Autor und dem Text.
Der Autor des Liedes ist problematisch. Hermann Claudius (1878–1980) ist der Urenkel von Mathias Claudius (1740–1815). Hermann Claudius hat sich in der Weimarer Republik in der Jugendarbeit der SPD engagiert und einige Lieder geschrieben. Das wohl bekannteste ist das Lied „Wann wir schreiten Seit’ an Seit’“ - seit den 1960er-Jahren Schlusslied auf SPD Parteitagen. Seine politische Haltung wandelte sich im weiteren Verlauf jedoch grundlegend. Claudius begeisterte sich nun für den Nationalsozialismus. Dies ist einer der Gründe, warum das Lied seit 2021 nicht mehr auf Parteitagen gesungen wird.
Wir merken: Unsere Erinnerungskultur ist immer mit Menschen verbunden und oft kaum von Schuld und Verfehlung zu trennen. Wir erleben die Spannung, die die Geschichte uns bietet und die wir uns im Erzählen wachhalten. Sie hält uns selbst den Spiegel vor, wenn wir uns damit auseinandersetzen.
Bei so vielen Texten und Liedern müssten wir - auch im Blick auf die Autoren - fragen: Kann man das noch singen? Es ist gut, dass wir die Frage heute stellen und nicht alles unkritisch hinnehmen.
Der Text des Liedes „Wisst ihr noch, wie es geschehen“ ist auf Anregung eines christlichen Verlegers entstanden, der sich nicht mit der „liturgischen Aushöhlung“ des Weihnachtsfestes durch die nationalsozialistischen Machthaber abfinden wollte. Nach deren Willen sollte nämlich auch Weihnachten an die neue, herrschende Ideologie angepasst werden.
Und so singe ich dieses Lied trotzdem! Trotzend singe ich den Text - auch dem Autor entgegen - und frage singend: Wisst ihr noch, wie es geschehen?
Und wir singen mit jeder Zeile und Strophe dem Geschehen in der Geschichte und den Menschen heute zu, was damals in Bethlehem im Stall geschehen ist. Als Anfrage und Infragestellung unserer täglichen Geschichtsgestaltung.
Wisst ihr noch, wie es geschehen?
Ein Rückblick, kein Ausblick. Und doch ein Rückblick, der den Ausblick bestimmt. Nur wer die Geschichte kennt, lernt, das Leben heute einzuordnen. Politisch ebenso, wie auch religiös. Nur wer die Geschichte von diesem Jesus kennt, weiß was der Inhalt der christlichen Hoffnung für diese Welt, für die Menschen und für Sie ist.
Wisst ihr noch, wie es geschehen?
Eine für uns doppelte Frage. Kennen Sie die Geschichte? Ihre Geschichte? Man kann sich nicht loslösen aus dem Zeitstrahl und sagen: Ich habe damit nichts zu tun. Die Geschichte der Vergangenheit hat die Gegenwart zu dieser Gegenwart gemacht.
Wisst ihr’s noch? Wir waren nicht dabei. Daher lesen wir davon in der Bibel, erzählen es und spielen es in Krippenspielen nach. Damit alle Menschen dieser Welt es mitbekommen: Gott steht über allem in der Welt und ist mitten in der Welt, um in eurem, Ihrem Leben Hoffnung zu geben.
IV. Glauben unter einem „leeren Himmel“
IV. Glauben unter einem „leeren Himmel“
Ich habe vor wenigen Tagen in meinem Regal ein Buch des evangelischen Autors Heinz Zahrnt wiederentdeckt: Glauben unter leerem Himmel. Er geht der Frage nach dem Glauben unter einem „leeren Himmel“, angesichts der scheinbaren Abwesenheit Gottes in der Welt nach.
Und dann frage ich: Was wäre denn, wenn wir Weihnachten nicht mehr feiern? Was würde unserer Welt verloren gehen, wenn wir Christen nicht mehr von dem singen, erzählen und verkünden, was wir glauben? Ein Leben unter leerem Himmel - ohne Gott?
Und dann schaue ich mich um und erlebe, dass es einige Menschen gibt, die genau so leben. Das erklärt mir die menschenfeindlichen Kriege, Terrortaten und auch unser Handeln gegen Schöpfung und Gerechtigkeit.
Wir schauen auf in Richtung Ukraine und dem Kriegsterror. Wir schauen nach Israel und Gaza. Aus Erinnerung verurteilen wir den Terror! Dem menschenfeindlichen Terror muss man was entgegensetzen. Dietrich Bonhoeffer hat es angemahnt, dem Rad in die Speichen zu fallen.
Und doch sei bei aller notwendigen Gewalt ein vorsichtig mahnendes Wort aus dem biblischen Zeugnis gelesen, das uns Menschen zur Begrenzung von Gewalt aufruft: Auge für Auge und Zahn für Zahn (Ex 21,22-25) ist ein Aufruf zur Begrenzung und Eingrenzung von Gewalt - es ist kein Wort der Legitimierung.
Wir Christen sind zuweilen ganz schön still geworden. Vielleicht haben wir uns viel zu lange darauf verlassen, dass andere, dass die Kirche und Kirchen, dass die Bischöfe und Pastoren für uns glauben und von dem Glauben erzählen. Wir haben uns darauf verlassen, dass das romantisierte Weihnachten schon ausreicht, um die Welt und die Menschen zu verändern.
Dabei haben wir es zu oft versäumt, uns selbst von eben diesem Glauben zu erzählen und Salz und Licht in dieser Welt zu sein.
Um es mit Worten von Fulbert Steffensky zu sagen:1
Ich wünsche mir eine Kirche, die Einfluss will, aber auf Macht verzichtet; eine Kirche, die sich nicht gegen andere positioniert, sondern die Mitspielerin ist im großen Spiel um die Gerechtigkeit und Freiheit; eine Kirche, die fähig ist, den Namen Gottes zu nennen und auszulegen. […]
Es ist Zeit, dass Christen und Christinnen sich besinnen auf die Schönheit und den Reichtum im eigenen Haus. Es gibt nicht viele Gruppen, die so etwas wie die Bergpredigt im Gepäck haben. Diese Kirche braucht keine Arroganz, aber sie braucht Stolz.
V. Leben, als ob es Gott gibt!
V. Leben, als ob es Gott gibt!
Ich möchte leben, als ob es Gott gibt! Geschichte muss erzählt werden. Dafür sind wir verantwortlich. Wir Christen erzählen von dem Stern in der Nacht. In den dunklen Momenten dieser Welt. Den Stern, der auf das Licht verweist, das im Dunkeln Hoffnung gibt: Jesus Christus.
Ich schaue nach hinten, um nach vorne zu erwarten. Darauf zu warten, dass in der Stille auf einmal dieses Leuchten und Singen in mein Leben kommt. Was wäre das traurig und verzweifelt, so ohne Hoffnung?
Wir feiern immer wieder neu diese eine Geburt. Aber sie war bereits und hat unser Leben und die Geschichte dieser Welt verändert. Es wäre trostlos, wenn wir nicht aus diesem Moment leben würden. Ohne die Geburt von Jesus und seine Auferweckung gäbe es keine christliche Hoffnungsbotschaft. Dann wäre Gott weit weg und der Himmel leer.
Aber der Himmel ist nicht leer - er ist voll! Übervoll mit Gottes Liebe, die in die Welt und eure Herzen hinein geboren wird.
VI. Schluss
VI. Schluss
Und so singen wir uns und der Welt entgegen und erinnern:
Wisst ihr noch, wie es geschehen?
Wir singen, damit die Menschen kommen und herbeieilen, jeder und jede, dass sie es sähen arm in einer Krippe liegen. Eine das Leben verändernde Begegnung mit dem Jesuskind, das unser Leben mit Licht und Hoffnung erfüllt:
Mitten in der dunklen Nacht!
Und nun eile ich selbst mit euch zur Krippe hin, schaue hinein und singe „Ich steh an deiner Krippe hier, o Jesu du mein Leben!“.
Ich wünsche Euch und Euren Familien eine friedliche und gesegnete Weihnacht!
Amen.
→ Lied singen EG 37: Ich steh an deiner Krippen hier.
1 https://taz.de/Theologe-Fulbert-Steffensky/!5972469/