Alles hat seine Zeit

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Kohelet 3,1–15 LU
Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde: Geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit; pflanzen hat seine Zeit, ausreißen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit; töten hat seine Zeit, heilen hat seine Zeit; abbrechen hat seine Zeit, bauen hat seine Zeit; weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit; klagen hat seine Zeit, tanzen hat seine Zeit; Steine wegwerfen hat seine Zeit, Steine sammeln hat seine Zeit; herzen hat seine Zeit, aufhören zu herzen hat seine Zeit; suchen hat seine Zeit, verlieren hat seine Zeit; behalten hat seine Zeit, wegwerfen hat seine Zeit; zerreißen hat seine Zeit, zunähen hat seine Zeit; schweigen hat seine Zeit, reden hat seine Zeit; lieben hat seine Zeit, hassen hat seine Zeit; Streit hat seine Zeit, Friede hat seine Zeit. Man mühe sich ab, wie man will, so hat man keinen Gewinn davon. Ich sah die Arbeit, die Gott den Menschen gegeben hat, dass sie sich damit plagen. Er hat alles schön gemacht zu seiner Zeit, auch hat er die Ewigkeit in ihr Herz gelegt; nur dass der Mensch nicht ergründen kann das Werk, das Gott tut, weder Anfang noch Ende. Da merkte ich, dass es nichts Besseres dabei gibt als fröhlich sein und sich gütlich tun in seinem Leben. Denn ein jeder Mensch, der da isst und trinkt und hat guten Mut bei all seinem Mühen, das ist eine Gabe Gottes. Ich merkte, dass alles, was Gott tut, das besteht für ewig; man kann nichts dazutun noch wegtun. Das alles tut Gott, dass man sich vor ihm fürchten soll. Was geschieht, das ist schon längst gewesen, und was sein wird, ist auch schon längst gewesen; und Gott holt wieder hervor, was vergangen ist.
Ihr Lieben,
alles hat seine Zeit.
Als ich 13 Jahre als war, sind wir umgezogen: von der Kleinstadt ins große Dorf. Für mich bedeutete das unter anderem, dass ich plötzlich Buskind war. Nicht mehr die Schulklingel war mein Ziel, sondern den Schulbus zu sehen – und am besten nicht nur die Rücklichter. Mein Bus kam laut Fahrplan 6:29 Uhr, mein Weg vom Haus zur Bushaltestelle betrug je nach – Lauftempo – zwischen reichlich 30 Sekunden und 6 Minuten.
Meinen Rekord habe ich etwas unfreiwillig aufgestellt, als meine Mutter eines morgens 6:23 Uhr in mein Zimmer kam und fragte, ob ich heute nicht zur ersten Stunde in die Schule müsste. Doch musste ich… 6 Minuten später stieg ich in den Bus ein.
Wieder ein anderes Mal habe ich es tatsächlich geschafft, den Bus zu verpassen. Ich rannte die Straße entlang, der Bus fuhr an mir vorbei, hielt an der noch 100m entfernten Haltestelle, ließ die eine Person einsteigen, die dort wartete – und fuhr wieder los, als ich gerade bei den Rücklichtern angekommen war.
Als ich noch nach Luft rang und mir diverse unfreundliche Wörter durch den Kopf schossen, hielt plötzlich ein Auto neben mir. Eine Frau öffnete die Tür, meinte, das kann ja nicht wahr sein, dass der Fahrer nicht auf mich wartet und ließ mich einsteigen. Zwei Haltestellen später schaute mich mein Kumpel etwas verdutzt an, dass ich aus einem fremden Auto aussteige. Es war dann vielleicht einer der schönsten Momente meines Lebens, als ich mit dem breitesten Grinsen, das mein Gesicht zu bieten hatte, den Busfahrer anschaute, als ich in den Bus einstieg.
Alles hat seine Zeit. Den Bus verpassen hat seine Zeit, in den Bus einsteigen hat seine Zeit. Sich ärgern hat seine Zeit, grinsen hat seine Zeit.
Das Buch Prediger ist eins von drei Büchern der Bibel, die den Anspruch erheben, von König Salomo verfasst zu sein. Alte jüdische Traditionen gehen davon, dass er das Hohelied als junger Mann verfasste, das Buch der Sprüche in der Mitte seines Lebens und das Buch des Predigers als alter lebenserfahrener Mann.
Ich stelle mir vor, wie der alte, weise König Salomo in seinem purpurroten IKEA-Ohrensessel sitzt und mit der Pfeife im Mund über das Leben sinniert. Vielleicht ist ja auch bei ihm gerade ein Jahr an sein Ende gelangt. Er blickt zurück und lässt vor seinem inneren Auge Revue passieren, was dieses Jahr beinhaltete.
Er denkt an die schönen Momente: an Feste und Feierlichkeiten, an Besuche von Freunden, an Momente in der Natur, an gute Zeiten mit Gott.
Er denkt an das Schwere: an den Verlust eines Freundes, an Streitigkeiten mit lieben Menschen, an Sorgen, die sein Leben plagten.
Er wird sich bewusst: Dies alles gehört zu meinem Leben dazu, ja es gehört zum Leben eines jeden Menschen dazu. Niemand kommt um das Schwierige herum und jeder darf sich schöner Momente erfreuen. – Und doch, so wird ihm klar, ist alles vergänglich. Jede Zeit ist endlich, jeder Moment findet ein Ende.
Es ist gewiss kein Zufall, dass Er sieben Mal je zwei Paare von Gegensätzen formuliert, die zu einem Leben dazugehören. Sieben als Zahl der Vollkommenheit; hier ist alles drin, was das Leben betrifft. Alles hat seine Zeit. Das heißt: Alles hört auch wieder auf. Schöne Momente haben ihre begrenzte Zeit, aber auch die schweren gehen wieder vorbei.
Salomo kommt zu dem Schluss: Was bringt es, sich immerzu abzumühen und dabei griesgrämig dreinzuschauen? Es ist doch vergeblich, wenn wir uns das Leben selbst schwer machen. Vielmehr sollen wir das Leben genießen, besonders die Momente, die zum Feiern einladen. „Jeder Mensch soll essen, trinken und glücklich sein als Ausgleich für seine ganze Arbeit. Denn auch dies ist eine Gabe Gottes.“ (V.13), schreibt Salomo. Alles hat seine Zeit.
Lebe in der Zeit, in der du jetzt gerade bist. Ist es eine schöne Zeit: Sei dankbar, denn du weißt, dass sie vorübergehen wird. Ist es eine schwere Zeit: Sei hoffnungsvoll, denn du weißt, dass sie vorübergehen wird.
Dieser letzte Tag des Jahres lädt uns dazu ein, auf das vergangene Jahr zurückzublicken und genau das festzustellen: Alles hat seine Zeit. Da waren schöne Zeiten und da waren schwere Zeiten. Momente des Wiedersehens, Momente des Abschieds. Momente des Streits, Momente der Versöhnung. Momente des Weinens, Momente des Lachens. Momente des Schweigens, Momente des Redens.
Manche Zeiten in unserem Leben dauern freilich länger als ein Jahr, manche viel länger, doch alle sind begrenzt. Im Letzten, weil auch unser Leben begrenzt ist.
Salomo fordert uns auf: Sei dir des Momentes bewusst, in dem du gerade lebst. Und sortiere ihn richtig ein; nichts ist von Dauer. Genieße das Schöne und sei gewiss, dass auch das Schwere vorbeigeht.
Alles hat seine Zeit.
Doch es wäre verkürzt, hier stehen zu bleiben und nur die Perspektive unseres menschlichen Lebens in den Blick zu nehmen. Vielmehr lädt uns das Verstehen unserer eigenen Endlichkeit, der Endlichkeit der Momente unseres Lebens, dazu ein, zu erkennen, dass Gott anders ist, dass Gott außerhalb der Endlichkeit, außerhalb der Zeit steht.
Alles, was wir Menschen tun, ist endlich, ist vergänglich, doch – so schreibt Salomo: „Alles, was Gott tut, ist von Dauer. Nichts kann man hinzufügen und nichts davon wegnehmen. Gott hat das so gemacht, damit man ihm mit Ehrfurcht begegnet.“ (V.14)
Gottes Werke sind ewig, Gott selbst ist ewig. Er allein gibt uns Hoffnung, dass mit dem Ende unserer Lebens hier auf der Erde nicht alles aus ist, dass unsere Zeit dann nicht aus ist, sondern dass es für uns weitergeht. Er allein bietet uns Dinge und Worte, die nicht vergehen, die kein Ende haben. Er allein hat eine unendliche und eine unendlich schöne Zukunft für uns.
Jesus sagt: „Himmel und Erde werden vergehen; aber meine Worte werden nicht vergehen.“ (Lk 21,33) Jesu Worte, Gottes Worte haben kein Ende, sie vergehen nicht. Das heißt auch, dass Seine Zusagen für uns nicht vergehen, die Hoffnung, die Er uns anbietet, der Frieden, den Er uns schenken will. Das heißt auch, dass Seine Liebe für uns nicht vergeht. Nichts kann uns trennen von Gottes Liebe.
Alles hat seine Zeit. — Aber das Leben mit Gott ist ewig!
Wenn ich mir darüber bewusst werde, wie klein ich doch bin in meiner Endlichkeit, als Mensch, der in der Zeit steht, für den alles seine Zeit hat, wie begrenzt und vergänglich alles Menschliche ist … – Wenn ich mir darüber bewusst werde und daneben den ewigen Gott sehe, dann kann ich nur staunen, ja dann werde ich von Ehrfurcht erfüllt. Ich kleiner Mensch vor dem großen unendlichen Gott. Mir bleibt gar nichts anderes, als mich vor diesem Gott demütig zu beugen.
Ich habe meine Zeit, Gott ist ewig. Aber dabei bleibt es nicht: Er hebt mich heraus aus meiner Zeit, hinein in Seine Ewigkeit.
Das verändert meine Perspektive. Das verändert meinen Blick auf das vergangene Jahr. Das verändert meinen Blick auch auf das kommende Jahr.
Alles hat seine Zeit – und dabei steht Gott doch über dieser Zeit und öffnet uns die Tür in Seine Ewigkeit. Wenn wir das für uns ergreifen und uns daran klammern, dann können wir die vergängliche Zeit hier umso mehr genießen, denn dann wissen wir, dass sie erst der Anfang unserer Ewigkeit ist.
Dann können wir Gott voller Vertrauen unsere Zeit anbefehlen: alles, was im heute zu Ende gehenden Jahr war und alles, was im neuen Jahr kommen wird. Alles dürfen wir in die Hände dessen legen, der außerhalb der Zeit steht. Alles dürfen wir in die Hände des ewigen Gottes, des liebenden Vaters legen.
Amen.
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