32 Millionen Herzschläge

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365 Tage gehen zu Ende. 8.760 Lebensstunden und rund 32 Millionen Herzschläge – das sind unzählige Möglichkeiten, die sich uns geboten haben. Möglichkeiten, Gutes erlebt haben zu können; aber auch Schweres, Bedrückendes, Trauriges. Ein weiteres (Lebens-)Jahr, das also zu Ende geht. Und ein neues Jahr, noch ganz unbekanntes und unbeschriebenes, liegt vor uns. ¶ Was hat uns das alte Jahr also gebracht; was wird uns das neue bringen? Wird alles beim Alten bleiben, weil es ja ohnehin „nichts Neues unter der Sonne gibt“1, wie der Prediger Salomo sagt? ⁁Oder wird alles endlich ganz anders und besser als das zu Ende gehende Jahr vielleicht? Ein Jahr mit hoffentlich mehr Zuversicht und Tatkraft?
Doch so oder so, wie auch immer wir uns zum Jahreswechsel verhalten: Wir halten heute inne. Denn das Ende eines Jahres ist wie der Moment zwischen Einatmen und Ausatmen. Das Vergangene hier; das zukünftig Kommende dort – und dazwischen wir mit all dem, was uns und unser Leben ausmacht. So geht es seit Äonen, und das Ende eines Jahres ist nicht das Ende an sich. Denn abgesehen davon, dass wir in wenigen Stunden eine 2024 als Jahreszahl schreiben, bleibt doch alles beim Alten. „Es gibt (schließlich) nichts Neues unter der Sonne“, um noch einmal den Prediger Salomo zu zitieren. Die Welt wird sich auch nach Mitternacht weiterdrehen, und der kommende Tag wird sich kaum von den anderen Tagen des Jahres unterscheiden. Und schließlich hat alles seine Zeit und seinen Ort.
Das sagt auch der Prediger Salomo. Wir hören auf den Predigttext im dritten Kapitel: „Für alles gibt es eine bestimmte Stunde. Und jedes Vorhaben unter dem Himmel hat seine Zeit: Eine Zeit für die Geburt und eine Zeit für das Sterben. Eine Zeit zum Pflanzen und eine Zeit zum Ausreißen des Gepflanzten. Eine Zeit zum Töten und eine Zeit zum Heilen. Eine Zeit zum Einreißen und eine Zeit zum Aufbauen. Eine Zeit zum Weinen und eine Zeit zum Lachen. Eine Zeit zum Klagen und eine Zeit zum Tanzen. Eine Zeit, Steine wegzuwerfen, und eine Zeit, Steine zu sammeln. Eine Zeit, sich zu umarmen, und eine Zeit, sich zu trennen. Eine Zeit zum Suchen und eine Zeit zum Verlieren. Eine Zeit zum Aufheben und eine Zeit zum Wegwerfen. Eine Zeit zum Zerreißen und eine Zeit zum Zusammennähen. Eine Zeit zum Schweigen und eine Zeit zum Reden. Eine Zeit zum Lieben und eine Zeit zum Hassen. Eine Zeit für den Krieg und eine Zeit für den Frieden. Welchen Gewinn hat einer davon, dass er etwas tut und sich damit abmüht? Ich sah das vergebliche Tun: Gott hat es den Menschen aufgegeben, damit sie sich plagen. Alles hat er so gemacht, dass es schön ist zu seiner Zeit. Auch hat er ihnen ans Herz gelegt, dass sie sich um die Zeiten bemühen. Nur kann der Mensch das alles nicht begreifen, was Gott von Anfang bis Ende tut. So habe ich erkannt: Es gibt kein größeres Glück bei den Menschen, als sich zu freuen und sich’s gut gehen zu lassen. Jeder Mensch soll essen, trinken und glücklich sein als Ausgleich für seine ganze Arbeit. Denn auch dies ist eine Gabe Gottes. So habe ich erkannt: Alles, was Gott tut, ist von Dauer. Nichts kann man hinzufügen und nichts davon wegnehmen. Gott hat das so gemacht, damit man ihm mit Ehrfurcht begegnet. Was geschehen ist, ist schon lange vorbei. Und was geschehen wird, ist auch schon wieder vorbei. Bei Gott aber ist das Vergangene nicht verloren.“
In einer langen Aufzählung von Gegensätzen stellt der Prediger Salomo zusammen, was alles seine Zeit hat. Achtundzwanzig Gegensatzpaare, 14 positive und 14 negative. Diese Zahl ist vermutlich nicht zufällig, sondern sie scheint den gesamten Lebensablauf zu symbolisieren. Denn die Zahl 28 ergibt sich durch die Multiplikation der Zahl für die Welt (vier) mit der Zahl der Fülle bzw. Vollkommenheit (sieben).2 ⁁Doch selbst wenn dem nicht so sein sollte: Es ist jedenfalls erstaunlich, was der Prediger Salomo in dieser Aufzählung alles benennt. Und wir könnten sicherlich jederzeit weitere Beispiele dazu finden: Erfüllende Augenblicke und Zeiten der Sehnsucht zum Beispiel; oder das Eintauchen in die Fülle des Lebens; oder das Gefühl, im Nirgendwo gestrandet zu sein; sich zu einer Gruppe von Menschen zugehörig zu fühlen; oder ausgegrenzt zu werden …
Sie finden Ihre ganz eigenen Exempel. Alle aber machen sie uns deutlich, dass wir jeden Tag gegensätzliche Erfahrungen machen. Wir erleben Schönes, Mutmachendes, Erhebendes. Es gibt Zeiten, in denen wir uns glücklich fühlen; voller Lebenskraft und Lebensfreude sind und das Leben in vollen Zügen genießen. ⁁Aber wir machen auch Schlimmes durch. Streit, Verluste, Krankheiten oder das Gefühl, übersehen und vergessen zu sein. – Nur werden solche bitteren Erfahrungen nicht allein dadurch besser, dass man sagt: „Alles hat seine Zeit.“ ¶ Wie wollen wir also heute am Altjahresabend einordnen, was sich für uns ganz persönlich, in unserem Land und in der Welt in den letzten zwölf Monaten ereignet hat? ※
Ich glaube, dass es zu einfach wäre, wenn wir nach dem Motto verfahren: „Das sind die Höhen und Tiefen des Lebens. Is’ halt so, also, was soll’s, Schwamm drüber.“ Natürlich gehören schmerzhafte Momente und Prozesse zum Leben dazu. Aber sie sind eben schmerzhaft und manchmal auch kaum auszuhalten. Und wenn wir könnten, würden wir uns solchen Zeiten lieber entziehen. ¶ Aber auf der anderen Seite würden auch die erfüllenden und beglückenden Erfahrungen an Glanz verlieren, wenn wir sie mit einem banalen „ach ja“, oder gar „auch das geht vorbei“ relativieren würden. ⁐ Alles hat also seine Zeit? Ja, das stimmt. Doch wir können daran wenig ändern. Wir können nicht beeinflussen, ob nun „eine Zeit zum Weinen“ oder „eine Zeit zum Lachen“ ist. Oder „eine Zeit zum Klagen“ oder „eine Zeit zum Tanzen“.
Und genau darin liegt die Pointe dieser Aufzählung. Ihnen ist sicherlich aufgefallen, dass der Prediger Salomo diese Gegensatzpaare erstaunlich wertfrei nebeneinanderstellt. Hinzu kommt, dass die Liste der Aufzählung eingerahmt ist durch zwei Paare, bei denen das Ganze des menschlichen Lebens auf dem Spiel steht, aber ohne dass dabei ein gewöhnlicher Mensch darauf Einfluss nehmen könnte: nämlich Gebären und Sterben sowie Krieg und Frieden.3Der Prediger will uns dadurch aufzuzeigen, dass es eben Beides in unserem Dasein gibt: Gutes – und Schlimmes. Und für jede Sorge, die uns trifft; für jeden Wunsch, den wir haben, gib es den entsprechenden Zeitpunkt4. ※
Doch dieser Zeitpunkt liegt bei Gott. Es ist Seine Zeit. Und das ist nun die Spannung, die wir aushalten müssen. Wir würden gerne das, was uns widerfährt, mehr bestimmen; stärker beeinflussen wollen. Manches können wir auch. Aber eben nicht alles. Manches ist und bleibt für uns unverfügbar. Denn was uns in diesem zu Ende gehenden Jahr getroffen hat an schönen Zeiten oder an Ereignissen, die unsere Geduld herausgefordert haben, das hatten wir letztendlich nicht in der Hand. Ebenso wenig, wie wir bis ins Letzte beeinflussen können, was uns im kommenden Jahr widerfahren wird. ⁁Der Wechsel unserer Vorhaben, Sorgen und Wünsche und ihrer Zeiten entzieht sich unserer Kontrolle. Das ist und bleibt so. ¶ Doch eines ist und bleibt verlässlich und gilt heute wie morgen, nämlich das, was uns die Jahreslosung zugesagt hat: „Du bist ein Gott, der mich sieht“5; der mich ansieht und es letztendlich gut mit mir meint.
Oder um es noch einmal mit den Worten des Predigers zu sagen: „Alles hat Er so gemacht, dass es gut und angemessen ist zu seiner Zeit.“ Und letztendlich hat Gott uns auch das Wissen um die „ferne Zeit“6 ins Herz gegeben, damit wir um die größere Zeitdauer, die größeren Zusammenhänge wissen, in denen Gott handelt. ⁂
Wie wäre es daher, wenn wir die Dinge, die auf uns zukommen, mit etwas mehr Gelassenheit und Demut, aber auch mit weniger Aufgeregtheit annähmen? ⁁Denn nicht alles, was war, ist und wird, hing und hängt von meinem Tun und Lassen ab. Gott mit Ehrfurcht zu begegnen7 heißt nicht, sich vom Ihm zu fürchten, wohl aber Ihm etwas zuzutrauen. ¶ Es kann entlasten, wenn ich etwas von meinen Schultern auf Gottes Schultern lade. Gott lädt uns dazu ein. Wie beim Tanzen kann ich mich in meiner Lebenszeit von Gott führen lassen; mich auf den Takt Gottes einlassen. Es gibt eine große Freiheit, wenn ich erkenne, dass Er mir meine Lebensmelodie mit einem je eigenen Takt gegeben hat. ⁁„Alles hat seine Zeit“: Das ist eine Einladung, im Moment zu leben. Die Welt ist von Gott wunderbar gemacht. Wir machen sie durch grämliches Grübeln nicht besser. Wenn wir uns alles zum Besten dienen lassen, wie es Dietrich Bonhoeffer einmal ausdrückt hat, dann wächst uns die Kraft zu, auch die dunklen Zeiten durchzustehen und auch dem Bösen Gutes entstehen lassen kann. Davon bin ich, auch aus eigenem Erleben, überzeugt.
Ich hoffe und glaube, wie Dietrich Bonhoeffer, dass Gott uns in jeder Notlage so viel Widerstandskraft geben will, wie wir brauchen. Aber halt nicht im Voraus, damit wir uns nicht nur auf uns alleine verlassen. Denn Gott ist nicht ohne Grund Mensch geworden, wie du und ich. Unser Leben berührt Ihn, und Er ist bei uns in allen Zeiten, die wir durchleben. Er tröstet durch ein Wiegenlied oder gibt Schwung mit einem schnellen Beat. Genau jetzt und auch im neuen Jahr.
Amen.
PL EG 56 Weil Gott in tiefster Nacht erschienen
1 Pred. 1,9
2   William MacDonald, Kommentar zum Alten Testament, trans. Christiane Eichler u. a., 2. Auflage. (Bielefeld: Christliche Literatur-Verbreitung, 2010), 885.
3   Annette Schellenberg, Kohelet, ed. Thomas Krüger, Konrad Schmid und Christoph Uehlinger, Bd. 17, Zürcher Bibelkommentare (Theologischer Verlag Zürich, 2013), 70.
4 kairov"
5 1. Mose 16,13
6 !l;[o
7   Vgl. V. 14b.
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