Kreuzwege der Moral: Von historischen Wunden zur heutigen Heilung
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· 3 viewsDie Predigt spricht über das Entsetzen und die Abscheu angesichts von Gräueltaten wie dem Holocaust und dem Missbrauch in der Kirche. Es wird betont, dass Christen und Kirchen Vorbilder für gerechtes und liebevolles Handeln sein sollten. In der wird die Frage gestellt, ob bloße Worte und moralische Appelle genug sind oder ob echte Veränderung und Taten notwendig sind. Es wird auf die Begegnung mit Jesus hingewiesen, der die Vollmacht zur Veränderung hat. Die Predigt betont die Bedeutung von Liebe und Glauben angesichts der Dunkelheit und Verzweiflung in der Welt. Es wird dazu aufgerufen, sich mit Gott zu versöhnen und um Veränderung zu bitten.
Notes
Transcript
Und sie entsetzten sich alle, sodass sie sich untereinander befragten und sagten: Was ist dies? Eine neue Lehre mit Vollmacht?
Und den unreinen Geistern gebietet er, und sie gehorchen ihm. Und die Kunde von ihm ging sogleich hinaus überall in die ganze Umgebung Galiläas.
Markus 1, 27–28
Es gibt Dinge, die ich nicht sehe und nicht verstehe.
Gestern haben wir an die Opfer des Nationalsozialismus gedacht. Am 27. Januar 1945 wurde das Vernichtungslager Auschwitz von sowjetischen Soldaten befreit. Was sie dort entdecken mussten, lässt der Welt, lässt uns noch heute den Atem stocken vor Abscheu und Entsetzen.
Mehr als eine Million Menschen waren allein in Auschwitz zwischen März 1942 und November 1944 in einem beispiellosen Vernichtungswillen ermordet worden. „Auschwitz“ steht heute als Begriff für den nationalsozialistischen Rassenwahn.
Millionen von Opfern dieses unsäglichen Mordens: Juden zuallermeist, aber auch Sinti und Roma, Homosexuelle, Behinderte, Kriegsgefangene, Menschen, deren Leben eine Politik mörderischen Rassenwahns sich angemaßt hatte, für „lebensunwert“ zu erklären.
Ich war diese Woche aber auch entsetzt über die Missbrauchsstudie in der Evangelischen Kirche. Viele tausend Kinder und Erwachsene leiden, weil ihnen böses angetan wurde.
Und ich weiß: Wir Menschen haben ein Problem im Umgang miteinander. Die Einen überheben sich über die anderen, aus Trieb, Macht und weil sie die Möglichkeit haben, dies geschützt zu tun.
Wir haben inzwischen Studien in der Katholischen Kirche, in der Evangelischen Kirche und auch Studien über Missbrauch in Kinderheimen und im Kontext des Sports.
Und wir wissen, dass es sich bei den Studien zumeist nur um die Fälle handelt, die bekannt geworden sind.
Das Schlimme dabei ist, dass den Opfern oft nicht geglaubt wird. Viel zu oft mussten sie Sätze hören wie „Der doch nicht“, „Du übertreibst“, „Das kann doch nicht sein“, „Du bildest dir was ein“ oder „Sei vorsichtig mit den Anschuldigungen, was, wenn es nicht stimmt“?
Und dann lese ich unser Evangelium, die Gute Nachricht für den heutigen Sonntag. Ich lese, wie Jesus mit Vollmacht und Veränderungspotenzial predigt.
Er gebietet den unreinen Geistern und sie gehorchen ihm.
Müssten nicht gerade wir Christen und unsere Kirchen besser da stehen und ein Vorbild für gerechtes, menschenwürdiges und liebevolles Handeln sein?
Es ist vielleicht einfach, über andere zu richten und politisch laut vernehmbar gesellschaftliche Missstände und Fehlformen anzuprangern. Ob es nun den Umgang mit der Schöpfung oder aber Menschenhandel, Waffenhandel und Migration angeht. Es ist auch richtig, zuweilen das Wort laut für die Armen und Geringsten zu erheben und anwaltlich Partei zu ergreifen.
Doch alles, was wir sagen ist unglaubwürdig und hohl, wenn es als Aussage und Mahnung von einem Hohen Roß der Gerechtigkeit wahrgenommen wird. Es verhallt wie das Echo in einem leeren Raum, ohne Widerhall, ohne Leben, ohne die Kraft, wirklich etwas zu bewegen.
Wir stehen dann da wie ein Orchester ohne Instrumente, bereit zur Aufführung, aber unfähig, auch nur eine einzige Note zu spielen. Unsere Worte, unsere Predigten, unsere moralischen Appelle werden hohl, wenn sie nicht von echter, gelebter Veränderung begleitet sind, wenn sie nicht das Fundament eines Lebens sind, das den Worten Taten folgen lässt.
Unrein nennt die Bibel die Geister, die in den Menschen sind und von Ihnen Besitz ergriffen haben. Unrein steht für: „Gott entgegengesetzt“ und für den „Gott entgegenstehenden Geist“.
In unserer Jesusbegegnung im biblischen Text begegnen wir einem unreinen Geist in der Synagoge von Kapernaum, einem Wesen, das in direktem Gegensatz zu dem steht, was Gott verkörpert.
Diese Begegnung führt uns in die Tiefe der persönlichen Konfrontation mit Jesus, einer Begegnung, die sowohl ein Gericht als auch eine Offenbarung darstellt. Hier, in der Präsenz Jesu, wird alles, was im Verborgenen liegt, ans Licht gebracht, und wir werden vor die Wahl gestellt, wie wir auf dieses Licht reagieren.
Die Aufklärung hat die unreinen Geister verdrängt. Sie durfte es nicht mehr geben. Vernunft siegt über Unvernunft. Mit der aufklärerischen Vernunft lässt sich alles klären und Lösen … Doch erleben wir, dass dem nicht so zu sein scheint.
Wo ist die Vernunft der Menschen, gegründet im aufgeklärten Menschen, der gebildet versteht, die Welt einzuordnen und rational und gut zu handeln?
„Dass ich erkenne, was die Welt im Innersten zusammenhält“, so beginnt Faust, die zentrale Figur in Goethes gleichnamigem Drama aus dem frühen 19. Jahrhundert, seine tiefgründige Suche.1 Es ist eine Suche, die nicht nur in der Welt der Literatur Resonanz findet, sondern auch in unserem eigenen Dasein, in unserem Ringen um Verständnis und Sinn in einer zunehmend komplexen und oft verwirrenden Welt.
In einer Szene tritt Faust mit dem Pudel auf und spricht:
Faust:
Verlassen hab ich Feld und Auen,
Die eine tiefe Nacht bedeckt,
Mit ahnungsvollem, heil'gem Grauen
In uns die beßre Seele weckt.
Entschlafen sind nun wilde Triebe
Mit jedem ungestümen Tun;
Es reget sich die Menschenliebe,
Die Liebe Gottes regt sich nun.
„Entschlafen sind nun wilde Triebe“ - „Schön wär‘s!“ möchte ich antworten.
Vielleicht wussten die Menschen damals in der Synagoge auch, dass die Lehrer in der Synagoge oft aus den Schriften zitierten und sie lasen - aber dass die bloße und ständige Wiederholung der Schriftworte allein keine Veränderung bringen.
Die Konfrontation mit Jesus, der ihnen mit voller Macht, mit Vollmacht und mit göttlicher Autorität ihr Leben erklärt und spiegelt, verunsichert sie in ihrer kuschelig eingerichteten Glaubenswelt.
Beim Evangelisten Johannes lesen wir:
Das ist aber das Gericht, dass das Licht in die Welt gekommen ist, und die Menschen liebten die Finsternis mehr als das Licht, denn ihre Werke waren böse. 20 Wer Böses tut, der hasst das Licht und kommt nicht zu dem Licht, damit seine Werke nicht aufgedeckt werden. 21 Wer aber die Wahrheit tut, der kommt zu dem Licht, damit offenbar wird, dass seine Werke in Gott getan sind.
Johannes 3, 19–21
Die Worte des Evangelisten Johannes verdeutlichen diese Wahrheit. Jesus kam in die Welt, nicht um zu richten, sondern um zu retten. Doch sein Kommen bringt ein Gericht mit sich, ein Gericht, das in der Offenlegung des Herzens liegt. In seiner Gegenwart können wir nicht verbergen, wer wir sind, und wir stehen vor der Entscheidung, wie wir auf die Wahrheit reagieren, die er offenbart.
In dieser Konfrontation von Goethes „Faust“ zwischen Faust und Mephistopheles sehen wir ein Echo der Spannung. Mephistopheles, der sich selbst als „Ein Teil von jener Kraft“ beschreibt, „Die stets das Böse will und stets das Gute schafft“, verkörpert die tiefe Ambivalenz unserer menschlichen Existenz.
Diese Worte, die zunächst widersprüchlich erscheinen, fordern uns auf, über die komplexe Natur der Realität nachzudenken, in der das Gute und das Böse oft eng miteinander verwoben sind.
Faust:
Bei euch, ihr Herrn, kann man das Wesen
Gewöhnlich aus dem Namen lesen,
Wo es sich allzu deutlich weist,
Wenn man euch Fliegengott, Verderber, Lügner heißt.
Nun gut, wer bist du denn?
Mephistopheles:
Ein Teil von jener Kraft,
Die stets das Böse will und stets das Gute schafft.
Faust:
Was ist mit diesem Rätselwort gemeint?
Mephistopheles:
Ich bin der Geist, der stets verneint!
Und das mit Recht; denn alles, was entsteht,
Ist wert, daß es zugrunde geht;
Drum besser wär's, daß nichts entstünde.
So ist denn alles, was ihr Sünde,
Zerstörung, kurz, das Böse nennt,
Mein eigentliches Element.
Faust:
Du nennst dich einen Teil,
und stehst doch ganz vor mir?
Friedrich Nietzsche, ein Philosoph, der tief in die Abgründe der menschlichen Seele blickte, warnte uns: „Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird.“2 Eine Einladung, die Tiefe unseres eigenen Abgrunds zu erkennen, aber auch die Hand zu ergreifen, die uns aus diesem Abgrund zieht.
Sie erinnern uns daran, dass in unserem Kampf gegen das Dunkle, gegen das, was Gott entgegengesetzt ist, eine dauerhafte Aufgabe ist. Es ist ein ständiges aufbäumen, um nicht selbst von den Dunkelheiten verschlungen zu werden, gegen die wir kämpfen.
Ich habe diese Woche auf WDR 5 „Das philosophische Radio“ gehört.3 Zu Gast war der Philosoph Markus Tiedemann. Er spricht in seiner Reflexion über die Postaufklärungsgesellschaft von einem Zeitalter, in dem die strahlenden Versprechen der Aufklärung – Vernunft, Fortschritt, Autonomie – zu verblassen scheinen. Er zeichnet das Bild einer Welt, in der die Gewissheiten der Vergangenheit nicht mehr tragen, eine Welt, in der die Zweifel wachsen und die alten Antworten nicht mehr genügen.
In dieser Welt stehen wir, wie Faust, vor der Herausforderung, das tiefe Rätsel unserer Existenz zu entziffern.
In der Begegnung mit Jesus in der Synagoge, werden wir aufgefordert, über unsere eigene Position in dieser Welt nachzudenken. Wir werden gefragt, was es bedeutet, in einer Zeit zu leben, in der die einfachen Antworten nicht mehr ausreichen, in einer Zeit, in der die Suche nach Wahrheit und Sinn eine Suche nach tieferen, spirituellen Antworten verlangt.
Letzten Endes geht es immer wieder darum, wer in Deinem Leben die Autorität hat, das Leben zu Deuten und Dich infrage zu stellen. Die gelesenen Worte der Bibel, die gesungenen Lieder im Gottesdienst, die kirchlichen Appelle und moralischen Forderungen: Das alles bleibt leer und hohl, wenn es nicht mit der Autorität Christi erfüllt ist: Mit Wahrheit, Wahrhaftigkeit und Heiligung des eigenen Lebens.
In dieser Suche, in diesem Ringen, in dieser Konfrontation mit den Schattenseiten unserer Welt und unserer eigenen Seele begegnet Jesus unseren inneren Geistern. Er hat die Vollmacht der Veränderung.
Und so erschrocken ich über die menschliche Unfähigkeit bin, zu lieben, Leben zu erhalten und zu töten: Ich halte fest an Christus, der zum wahrhaftigen Leben ruft.
In Christus sehen wir die wahre Autorität, die wahre Macht – die Macht der Liebe, die stärker ist als jede Dunkelheit, als jede Verzweiflung, als jede Furcht.
Ihn bitte ich um Veränderung der Menschen dieser Welt - angefangen um die Veränderung in mir - zu ihm hin. Zu einem versöhnten Miteinander mit Gott.
Und so spreche ich euch das Wort des Paulus zu, welches er an die Gemeinde in Korinth schrieb:
So sind wir nun Botschafter an Christi statt, denn Gott ermahnt durch uns; so bitten wir nun an Christi statt: Lasst euch versöhnen mit Gott! Denn er hat den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht, auf dass wir in ihm die Gerechtigkeit würden, die vor Gott gilt.
2 Korinther 5, 20–21
Amen.
1 https://www.projekt-gutenberg.org/goethe/faust1/
2 Vgl. Nietzsche, Friedrich: Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse. Vollständige NeuausgabeVorspiel einer Philosophie der Zukunft.
3 https://www1.wdr.de/mediathek/audio/wdr5/wdr5-das-philosophische-radio/audio-markus-tiedemann-postaufklaerungsgesellschaft-100.html