Selbstbejahung und Selbstverleugnung
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Selbstverleugnung versus Selbstliebe und Selbsthass
Selbstverleugnung versus Selbstliebe und Selbsthass
In seinem Buch Das Kreuz hatte Stott nachgewiesen, dass der Tod von Jesus Christus mehr ist als das inspirierendes Beispiel für ein aufopferungsvolles Leben. Stott zählt zu jenen, die das Geschehen auf Golgatha als stellvertretendes Sühnehandeln verstehen. Es bringt all jenen, die daran glauben, dass Jesus für sie persönlich gestorben ist, Vergebung der Sünden und ewiges Leben. Aber das Kreuz ist für Stott nicht nur der Weg, auf dem Menschen errettet werden. Er war zutiefst davon überzeugt, dass es obendrein das Kennzeichen der Nachfolge Christi schlechthin ist. „Das Kreuz“ so schrieb er, „ist nicht nur ein Anstecker, durch den wir erkannt werden“, sondern es ist „der Kompass, der uns Orientierung in einer orientierungslosen Welt gibt“ (S. 106). Das Kreuz verändert die Art und Weise, wie wir Gott, uns selbst, die Gemeinde und die Welt sehen. Ein Christ gibt, so Stott, sein Leben täglich in den Tod, um unter der Herrschaft Gottes zu leben (vgl. 106).
„Das Kreuz verändert die Art und Weise, wie wir Gott, uns selbst, die Gemeinde und die Welt sehen.“
Nun hat Stott bemerkt, dass viele Menschen mit lähmenden Minderwertigkeitsgefühlen zu kämpfen haben. Oft hängt das mit Erfahrungen in der Kindheit und Jugend und kulturellen Einflüssen zusammen.6 Die Botschaft der täglichen Selbstverleugnung (vgl. z.B. Lk 9,23) wird von solchen Christen bisweilen so aufgenommen, dass sie sich noch weniger zutrauen, als dies sowieso schon der Fall ist. Deshalb rief Stott weder zum Selbsthass noch zur Selbstliebe auf,7 sondern zur Selbstverleugnung und zur Selbstbejahung: „Er hebt sowohl die biblischen Appelle zur Selbstverleugnung hervor – insbesondere den Aufruf Jesu, uns selbst zu verleugnen und unser Kreuz auf uns zu nehmen (Mk 8,34) – als auch die Bejahung unseres Menschseins, die wir in der Lehre und Haltung Jesu erkennen“ (S. 107).
Wie ist dieser scheinbare Widerspruch zu verstehen? Stott löst die Spannung auf, indem er von einer zweifachen Identität des Christen spricht. „Diese doppelte Identität hilft uns zu erkennen, was Selbstverleugnung beinhaltet: ‚Das Selbst, das wir verleugnen, ablegen und kreuzigen sollen, ist unser gefallenes Selbst, alles in uns, was mit Jesus Christus unvereinbar ist“ (S. 107). Weil das so wichtig ist, zitiere ich das im Zusammenhang aus der deutschen Ausgabe von Das Kreuz. Zunächst schreibt er:
„Was wir sind (unser Selbst oder unsere persönliche Identität) ist zum Teil das Resultat der Schöpfung als Ebenbild Gottes und zum Teil das Resultat des Sündenfalls als entstelltes Ebenbild. Das Selbst, das wir verleugnen, von dem wir uns lossagen und das wir kreuzigen sollen, ist unser gefallenes Selbst, alles in uns, was nicht mit Jesus Christus vereinbar ist (daher seine Aufforderungen ‚verleugne er sich selbst‘ und dann ‚folge mir nach‘). Das Selbst, das wir bejahen und wertschätzen sollen, ist unser erschaffenes Selbst, alles in uns, was mit Jesus Christus vereinbar ist (daher seine Aussage, dass wir uns selbst finden werden, wenn wir uns durch Selbstverleugnung verlieren). Wahre Selbstverleugnung, die Verleugnung unseres falschen, gefallenen Selbst, ist nicht der Weg zur Selbstzerstörung, sondern zur Selbstfindung.“8
Das bedeutet, wir verneinen in uns das, was zu dem gefallenen Selbst gehört, bejahen aber, was unter der Verheißung des neuen Menschen steht. Stott schreibt weiter:
„Was immer wir also durch die Schöpfung sind, müssen wir bejahen: Unsere Rationalität, unser Bewusstsein moralischer Verpflichtung, unsere Sexualität (sei es Männlichkeit oder Weiblichkeit), unser Familienleben, unsere Begabung zu ästhetischem Empfinden und künstlerischer Kreativität, unsere Haushalterschaft über die fruchtbare Erde, unseren Hunger nach Liebe und unser Erleben von Gemeinschaft, unser Bewusstsein der transzendenten Majestät Gottes und unseren angeborenen Drang, niederzufallen und ihn anzubeten. All dies (und mehr) ist Teil unserer erschaffenen Menschlichkeit. Es stimmt, dass es durch Sünde befleckt und verbogen wurde. Doch Christus kam, um es zu erlösen, nicht um es zu vernichten. Deshalb müssen wir es dankbar und positiv bejahen. Was immer wir hingegen durch den Sündenfall sind, müssen wir verleugnen oder ablehnen: Unsere Irrationalität; unsere moralische Verderbtheit; unsere Verwischung sexueller Unterscheidungsmerkmale und unseren Mangel an sexueller Selbstbeherrschung; die Selbstsucht, die unser Familienleben verdirbt; unsere Faszination für das Hässliche; unsere träge Weigerung, Gottes Gaben zu entwickeln; unsere Verschmutzung und Zerstörung der Umwelt; die antisozialen Tendenzen, die wahre Gemeinschaft behindern; unsere stolze Autonomie und unsere götzendienerische Weigerung, den lebendigen und wahren Gott anzubeten. All dies (und mehr) ist Teil unserer gefallenen Menschlichkeit. Christus kam nicht, um sie zu erlösen, sondern um sie zu vernichten. Deshalb müssen wir sie entschieden verleugnen oder ablehnen.“9
„Wahre Selbstverleugnung führt zur Selbstentdeckung, die uns von unserer Selbstbezogenheit befreit.“
Das Kreuz ruft uns demnach zur Selbstbejahung und Selbstverleugnung zugleich auf. Das ist eine erhellende Klarstellung. Sie hilft nämlich, eine unnötig weltverleugnende Haltung zu vermeiden, in der wir die guten Gaben Gottes aus der Sorge heraus ablehnen, dass wir uns nicht ausreichend selbstverleugnen. Noch wichtiger ist, dass sie den positiven Wert der Selbstverleugnung aufzeigt. Wahre Selbstverleugnung führt zur Selbstentdeckung, die uns von unserer Selbstbezogenheit befreit und dazu befähigt, ein Leben der Selbsthingabe zu führen. Zu einem hingegeben Leben gehören nach Stott auch Verzichts- und Leidensbereitschaft.
7 Stott lehnt die weitverbreitete Vorstellung, Jesus hätte uns zu Selbstliebe aufgerufen, entschieden ab. Siehe dazu: John Stott, Das Kreuz, 2009, S. 353–354.