Erneuerte Sinne statt Drehschwindel

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Weder systemkonformes noch systemkritisches Verhalten ist zielführend. Die einen verbiegen sich, um nicht anzuecken, die anderen, um nicht hinzufallen – windschief sind wir trotzdem alle. Selbst in der Auflehnung gegen das System fühlt sich das Leben als richtig an. Wie aber brechen wir diese Dynamik auf? In dieser Frage geht es schlussendlich um die Existenz der christlichen Gemeinschaft.

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«Ich muss hier raus!» Mit verzweifeltem Aufschrei und dem unerträglichen Schwindelgefühl standen wir mitten auf der Skipiste in einem steilen Hang. Wahrscheinlich kennen sie das Gefühl, wenn man mitten im Nebel steht. Als wir im letzten Winter auf unseren Skiern vom Männlichen Richtung Grindelwald fuhren, sahen wir kaum zwei Meter in die Weite. Die bucklige Piste, die wir am Vortag mit viel Schwung herunter fuhren, wurde plötzlich zur Herausforderung. Weil alles grau in grau war, erkannten wir die Unebenheiten nicht mehr und verloren dabei das Gefühl für das Gelände.
«Ich muss hier raus!» das habe ich in den letzten Wochen und Monaten immer wieder gedacht. Mit «hier» meinte ich weniger einen Ort, als vielmehr den Drehschwindel, der mich überkommt, wenn ich Zeitungen konsultiere oder Onlineberichte lese. Dieses Gefühl kommt bei weitem nicht nur beim Thema Corona auf, sondern bei Themen wie Klima, Konzerninitiative, Bildung oder Gender. Alles entpuppt sich als ideologischer Kampf. Wer sachlich diskutiert und Fragen stellt, sieht sich im Handumdrehen mit dem moralischen Urteil der Häresie konfrontiert. Moral hat in unserer Gesellschaft längst eine meinungsbildende Stellung erhalten. Moralisch ist dann oft selbstbegründet. Dies zeigt sich in der Kompromisslosigkeit der betroffenen Positionen. Die Moralisierung schürt Emotionen und dient dazu die Massen zu mobilisieren. Darum entpuppen sich immer mehr gesellschaftliche Themen zu einem ideologischen Kampf. Moral wird zur Religion, zu einer Ideologie. Es scheint, dass man sich nur der vorherrschenden Meinung anpassen kann oder sein Dasein als Häretiker fristen muss. Religion teil schnell die Menschen in zwei Gruppe ein: in Fromme und Verlorene. Darin entsteht der Nährboden, dass Meinungen nicht mehr miteinander diskutiert und nach Lösungen gerungen wird, sondern Diffamierung unreflektiert ausgeteilt werden. Es ist wie Skifahren mitten im Nebel – es löst Schwindel, Orientierungslosigkeit und schliesslich Ärger aus – denn ich will hier raus!
Wie aber brechen wir diese Dynamik auf? Weder systemkonformes noch systemkritisches Verhalten ist zielführend. Die einen verbiegen sich, um nicht anzuecken, die anderen, um nicht hinzufallen – windschief sind wir trotzdem alle. Selbst in der Auflehnung gegen das System fühlt sich das Leben als richtig an. Wie aber brechen wir diese Dynamik auf? In dieser Frage geht es schlussendlich um die Existenz der christlichen Gemeinschaft. Was ich am letzten Sonntag auf der Ebene des einzelnen Menschen entfaltet habe, hat auch für uns als Gemeinschaft Bedeutung.
Der Appell von Paulus trifft auch heute den Nerv unserer Zeit: «Stellt euch nicht dieser Welt gleich, sondern lernt, in einer neuen Weise zu denken, damit ihr verändert werdet und beurteilen könnt, ob etwas Gottes Wille ist – ob es gut ist, ob Gott Freude daran hat und ob es vollkommen ist» (Röm 12,2).
Mit der Bezeichnung «diese Welt» schreibt Paulus von einem Äon und meint damit eine bestimmte Zeitperiode. Diese kann die Lebenszeit eines Menschen umfassen, aber auch die Ewigkeit der Welt. Paulus fordert von den Christen, dass sie sich nicht der gegenwärtigen Zeit gleichstellen sollen. In der griechischen Sprache steht hier das Wort «syschematizo», was übersetzt werden kann mit: in das Schema, das System fügen. Paulus weiss, dass zu seiner Zeit sowohl die Juden als auch Heiden sich ihrer Zeit gleichgestellt haben. Das Weltsystem von Gerechtigkeit durch Gesetzeseinhaltung noch die Betonung der Selbstrechtfertigung sind zielführend. Ein Weltsystem bringt nie Befreiung. Ob gesetzestreu oder gesinnungsgelenkt – beides führt an Gott vorbei. Allein die Gnade durch Jesus Christus schenkt eine Gerechtigkeit, die unabhängig vom Weltsystem ist.
Jesus kam in die Welt. er wurde einer von uns. Er begab sich in unsere Halbwahrheiten und fügte sich in die herrschenden Schemata ein, ohne diese zu übernehmen. Wer zu Jesus Christus gehört, lebt nach seiner Wahrheit, nach seinem Reich Gottes, nach seiner Rechtsprechung – mitten in dieser Welt. Die Gemeinde Christi bewegt sich unverkrümmt und vollmächtig in ihrer Zeit. Sie ist weder Systemkonform noch Systemkritisch, sondern Systemunkonform.
Wie kommt das? Jeder einzelne, der Jesus Christus nachfolgt, lässt sich verändern. Hier schreibt Paulus den griechischen Begriff «metamorpho.» Es ist ein rares Verb in den Evangelien. Es bedeutet «transformieren und verwandeln» und erinnert an die Verklärung von Jesus auf dem Berg. Die Jünger sahen die Herrlichkeit und das göttliche Wesen von Jesus. Entsprechend schreibt Paulus im 2. Kor 3,18, dass die Gemeinde «verwandelt» werden soll. Verwandlung geschieht durch die Erneuerung des Sinnes. Mit Sinn, griechisch «nous», ist nicht die Ratio gemeint, sondern die Gesamtheit unserer Sinne, mit der wir uns in dieser Welt orientieren, sie erschliessen und deuten. Der erneuerte Sinn orientiert sich nicht an starren Gewissheiten und Theorien, weil der Sinn dadurch selbst erstarren würde. Der Sinn orientiert sich auch nicht an der Welt und schmiegt sich nicht in den Zeitgeist ein, sondern prüft (dokimazo) und beurteilt aufgrund des Reich Gottes, was wirklich Gut (agathos), was dem Reich Gottes beizupflichten ist und was zielgerichtet, also dem eigentlichen Ziel des Reich Gottes dient. In einer taumelden Zeit soll seine Gemeinschaft so verwandelt sichtbar werden, dass durch Sie Gottes Reich, seine Herrlichkeit spürbar wird. Die Gemeinde Chirsti ist systemunkonform, weil sie sich an Christus und seinem Reich orientiert und nicht an den Gesinnungen dieser Welt.
Viel zu schnell könnte mir nun der Widerstand gegen Massnahmen in den Mund gelegt werden. Es geht mir nicht um eine Polarisierung. Ich orientiere mich weder an den Systemkritikern noch an den Systemkonformen, sondern versuche im Labyrinth der gegenwärtigen Zeit das eigentliche Ziel des Reich Gottes zu erkennen. Einfach ist es nicht. Alleine geht es auch nicht. Es ist Aufgabe der Gemeinde.
Wie gelingt uns dies?
- Um nicht die eigenen in Gesinnungen als Sinn des Reich Gottes zu vermitteln, sind wir herausgefordert unsere Gesinnung immer wieder anhand der Schrift und im Gebet zu prüfen. Wozu und wohin führt diese Erschütterung? Wir sind mitten in einem Übergang. Die Welt und ihr Gefüge wird verändert. Schauen wir nur zu. Nehmen wir nur wahr, oder versuchen wir zu verstehen und Gott zu fragen? In jenem Psalm 27, den ich im Anfang des Gottesdienstes gelesen habe, gibt es jene Bitte: «Mein Herz hält dir vor dein Wort: Sucht mein Angesicht! Dein Angesicht, o Herr, will ich suchen. Verbirg dein Angesicht nicht vor mir; weise deinen Knecht nicht ab im Zorn!» (Ps 27,8–9) Diese Bitte können wir nicht delegieren. Es ist unsere Aufgabe, Gott zu suchen. Das geschieht alleine und auch in der Gemeinschaft.
- Wir können nicht einfach vertrösten und ein billiges Evangelium verkünden. Das Evangelium entfaltet sich mitten im Schmerz – am Kreuz. Als Gemeinde sollten wir den gegenwärtigen Schmerz und die Angst wahrnehmen. Ihn aushalten und nicht abkürzen mit Vertröstungen. Standhaftigkeit entwickelt sich, weil ich hineinstehe und aushalte, mittrage und immer wieder Gottes Wirklichkeit in unsere Situation einlade.
- Wir sollten nicht unser eigenes Gewissen beruhigen mit Aktivitäten. Wir sind anfällig für alles, was unser Gewissen beruhigt. Wir brauchen kein «gutes Gewissen», sondern ein Gewissen, das hinterfragt, zur Umkehr und Erneuerung führt. Ein «reines Gewissen», das durch Christus gereinigt ist und nicht beeinflusst wird von einem «schlechten Gewissen.»
- Wir brauchen neuen Bezug zur Verantwortung. Verantwortung lässt sich nicht delegieren. Sie zeigt sich aber in erster Linie auch nicht in grossen Handlungen, sondern der Betroffenheit, dem daraus entstandenen Verständnis und der Einsicht, das bin ich, der für das Reich Gottes einstehen kann.
- Es braucht Hingabe, statt Selbstaufgabe. Hingabe drängt nicht zu einem Handeln, sondern wendet sich einer Sache zu. Hingabe beinhaltet nicht Leistung und Eifer, nicht Ansehen und Einfluss, sondern innere Präsenz, das Richtige zu tun. Hingabe wächst aus dem Gebet und der innigen Beziehung mit Christus selbst.
- Es braucht Annahme und Respekt, statt vereinnahmende Toleranz, die Maulkörbe verteilt. Die Toleranz will Grenzen vermischen und einheitliches Denken propagieren. Annehme und Respekt hören zu, ringen um Verständnis und wenden sich nicht einfach ab. Unsere Gesellschaft polarisiert sich zunehmen, obwohl Toleranz in jedem Munde ist. Weckt das keine Fragen?
- Wir brauchen Gemeinschaft – nicht virtuell, sondern ganz physisch. Warum nicht innerhalb der gegebenen Massnahmen, diejenigen Formen suchen und finden, die möglich sind. Hier in der Kirche hat es Platz für 50 Personen. Wir erleben, dass diese Anzahl nie erreicht wurde. Warum? Die Gemeinschaft soll nicht verloren gehen. Wir freuen uns, wenn diese 50 Personen ausgefüllt werden, denn Gottesdienst bedeutet vor allem auch physische Gemeinschaft. Oder statt alleine diesen Livestream zu schauen, sich in kleinen Gruppen treffen und miteinander darüber diskutieren – auch wenn dies eine Maskenplficht und Abstandsregelung beinhaltet. Wir sollten es uns nicht nehmen lassen, dass die Gemeinschaft zusammenbricht und die Liebe erkaltet.
Es sind jene Psalmworte, die uns hineinnehmen in dieses systemunkonforme Denken und Handeln: «Zeige mir, Herr, deinen Weg und leite mich auf ebener Bahn! Gib mich nicht preis der Gier meiner Feinde, denn falsche Zeugen sind gegen mich aufgestanden
und stossen Drohungen aus. Ach, wenn ich nicht gewiss wäre, dass ich die Güte des Herrn sehen werde im Land der Lebendigen — Harre auf den Herrn! Sei stark, und dein Herz fasse Mut, und harre auf den Herrn!» (Ps 27,10–14). Bleiben wir dran, jeder einzelne und gemeinsam als Gemeinschaft von Christen, damit «die Welt erkenne» (Joh 17,23), dass du, Jesus Christus, uns gesandt hast und sie liebst, gleichwie du uns liebst.
Amen.
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