Beten wie Daniel
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Dan 9,4-5.16-19
4 Und ich betete zum HERRN, meinem Gott, und ich bekannte und sprach: Ach, Herr, du großer und furchtbarer Gott, der Bund und Güte denen bewahrt, die ihn lieben und seine Gebote halten! 5 Wir haben gesündigt und haben uns vergangen und haben gottlos gehandelt, und wir haben uns aufgelehnt und sind von deinen Geboten und von deinen Rechtsbestimmungen abgewichen.
[…]
16 Herr, nach all ⟨den Taten⟩ deiner Gerechtigkeit mögen doch dein Zorn und deine Erregung sich wenden von deiner Stadt Jerusalem, dem Berg deines Heiligtums! Denn wegen unserer Sünden und wegen der Vergehen unserer Väter sind Jerusalem und dein Volk zum Hohn geworden für alle rings um uns her. 17 Und nun, unser Gott, höre auf das Gebet deines Knechtes und auf sein Flehen! Und lass dein Angesicht leuchten über dein verwüstetes Heiligtum um des Herrn willen! 18 Neige, mein Gott, dein Ohr und höre! Tu deine Augen auf und sieh unsere Verwüstungen und die Stadt, über der dein Name ausgerufen ist! Denn nicht aufgrund unserer Gerechtigkeiten legen wir unser Flehen vor dich hin, sondern aufgrund deiner vielen Erbarmungen. 19 Herr, höre! Herr, vergib! Herr, merke auf und handle! Zögere nicht, um deiner selbst willen, mein Gott! Denn dein Name ist über deiner Stadt und deinem Volk ausgerufen worden.
Daniel betet — und wie er betet!
Das ist kein Gebet, dass er mal eben so runterleiert; das ist kein Gebet, das er mal kurz irgendwo einschiebt; das ist kein Gebet, wie jedes andere.
Dieses Gebet ist voll von Intimität zu Gott; es ist voll von Vertrauen auf Gottes große Macht; es ist voll von Hoffnung auf Gottes große Barmherzigkeit; es ist voller Leidenschaft. — Und die Verse, die wir gehört haben, sind nur ein kleiner Ausschnitt des gesamten Gebetes.
Wie ein Priester tritt er als Stellvertreter seines Volkes vor Gott und fleht zu Ihm, dass Er eingreifen möge. Er bekennt die große Schuld seines Volkes und bittet um Gottes Barmherzigkeit.
Um zu verstehen, was hier eigentlich geschieht, müssen wir uns in Daniel und seine Zeit zurückversetzen: Wir schreiben das Jahr 539 v. Chr. Soeben hatte sich Großes ereignet in der Weltgeschichte: Die Babylonier, dieses weise und mächtige Volk, wurden gestürzt. Knappe 50 Jahre war es her, dass sie das Volk Israel besiegt und zum Teil nach Babylon deportiert hatten. Doch nun ist ihre Weltherrschaft zu Ende. Mit den Persern hatte sich eine neue Weltmacht erhoben und nun ihrerseits die Babylonier besiegt. Die Weltgeschichte verändert sich, wird weitergeschrieben — und Daniel ist mittendrin.
Ähnlich wie einst Josef in Ägypten, der ebenso wie Daniel die Gabe hatte, Träume zu deuten, galt Daniel als einer der weisesten Männer in Babylon. Mit Gottes Hilfe hatte er es bis an die Spitze des Reiches geschafft, war einer der wichtigsten Männer am Hof der babylonischen Herrscher. Inzwischen war er ein alter Mann, um die 80 Jahre. Doch seine Weisheit hatte er noch nicht eingebüßt. Er erkannte die Zeichen der Zeit. Er spürte, dass dieser Machtwechsel auch für sein Volk, das Volk Israel, eine große Bedeutung haben würde. Noch im selben Jahr sollte der neue große Perser-König Kyrus ein Edikt erlassen, das es allen Juden erlaubte, nach Israel zurückzukehren. Und auch die von Jeremia prophezeite Dauer bis zum Wiederaufbau Jerusalems neigte sich allmählich dem Ende. In Jeremias Buch hatte Daniel geforscht und verstand, was er da las.
Man könnte also zusammenfassen: Das Volk Israel befindet sich seit vielen vielen Jahren in einer schlimmen Lage, fernab der eigenen Heimat, doch nun endlich ist ein Hoffnungsschimmer am Horizont zu sehen, ein Licht am Ende des Tunnels; es deutet sich Rettung an.
Mir scheint, wir befinden uns jetzt gerade in einer ähnlichen Situation. Natürlich sind wir nicht seit 50 Jahren im Exil; aber wir erleben gerade die schlimmste Krise seit einigen Jahrzehnten — und die aktuellen Entwicklungen lassen einen ersten Hoffnungsschimmer am Horizont erahnen, ein Zeichen, dass diese Krise bald überstanden sein könnte. Wenn man so will, hat unsere Situation also etwas gemein mit der Situation Daniels. — Wie reagiert er auf all diese Zeichen?
Auf den ersten Blick überrascht Daniels Gebet! Würden wir nicht einen Lobpreis, einen Jubel erwarten, ein Dankgebet, dass Gott seinem Volk wieder gnädig ist? Es geht wieder bergauf — das ist doch Grund zur Freude!
Doch Daniels Blick geht bereits weiter. Er weiß um die Herausforderungen, die erst noch bewältigt werden müssen. Er weiß, dass Jerusalem noch verwüstet daliegt und dass der Tempel zerstört ist. Und er weiß, dass all dies geschehen war, weil Israel sich von seinem Gott abgewendet hatte.
Warum wir diese gegenwärtige Krise erleiden müssen, weiß ich nicht. Vielleicht ist es ein Gericht Gottes, ich möchte das nicht ausschließen, vielleicht hat es aber auch andere Gründe. Sicher erscheint mir aber, dass auch unser Land, ja unsere gesamte westliche Zivilisation sich immer mehr von Gott abgewandt hat. Immer mehr Menschen haben Gott den Rücken zugekehrt und wollen Ihn vergessen oder haben es längst getan. Wer auf das Brot des Lebens verzichtet und nicht mehr aus der lebendigen Quelle schöpft, der muss zwangsläufig eingehen und Gottes Wege verlassen.
Wir können ohne weiteres für unser Land, vielleicht auch für unsere Familien, ja vielleicht sogar für uns selbst in das Gebet Daniels einstimmen, mit ihm auf die Knie gehen und bekennen:
5 Wir haben gesündigt und haben uns vergangen und haben gottlos gehandelt, und wir haben uns aufgelehnt und sind von Deinen Geboten und von Deinen Rechtsbestimmungen abgewichen.
Im 1. Johannesbrief wird uns zugesagt:
Wenn wir aber unsre Sünden bekennen, so ist Gott treu und gerecht, dass er uns die Sünden vergibt und reinigt uns von aller Ungerechtigkeit. (1 Joh 1,9)
Gott sei Dank, dürfen wir uns Seiner Gnade gewiss sein! Diese Gnade ist es, die an allem Anfang steht. Denn blicken wir noch einmal zurück, so begann die Wiederherstellung des Volkes Israel und die Wiederherstellung Jerusalems nach dem Exil nicht etwa mit dem Wiederaufbau aus den Trümmern, sondern zuallererst mit der Gnade Gottes. Sie ist das Nötige, ihr folgt alles nach.
Dies wird auch für uns gelten, wenn wir wieder zurück ins „normale“ Leben finden wollen. Es ist noch nicht absehbar, welche wirtschaftlichen Folgen diese Krise für uns haben wird — und ja auch schon hat, aber noch viel größer und schwieriger erscheint mir die Frage, wie wir zu einem Leben ohne Angst und Furcht zurückfinden können — das wieder vom Vertrauen zu unseren Mitmenschen geprägt ist, in dem wir uns wieder ohne Vorbehalte begegnen können. Gottes Gnade ist es, die hier am Anfang stehen muss.
Dessen ist sich auch Daniel absolut bewusst. Er schließt sein Bußgebet mit der ausführlichen Bitte, dass Gott sein Gebet erhören und eingreifen möge. Und er nennt vier Begründungen, warum Gott dies tun soll: „um des Herrn willen“ (V.17), „aufgrund deiner vielen Erbarmungen“ (V.18), „um deiner selbst willen, mein Gott“ (V.19) und zu guter letzt: „Denn dein Name ist über deiner Stadt und deinem Volk ausgerufen worden.“
Daniel weiß: Wir haben Gott nichts zu bieten. Nichts, womit wir das Recht hätten, irgendetwas zu fordern. Der Grund für Gottes Eingreifen liegt in Ihm selbst! In Seinem Wesen, in Seiner Liebe zu uns.
Daniel betet:
Dan 9,18b Denn nicht aufgrund unserer Gerechtigkeiten legen wir unser Flehen vor Dich hin, sondern aufgrund Deiner vielen Erbarmungen.
Das ist es, was uns Hoffnung macht: Unser Gott ist ein gnädiger Gott, voller Liebe und Erbarmen für uns. Zu Ihm dürfen wir immer kommen, wie wir sind, ohne dass wir etwas zu bieten hatten.
Ich möchte euch ermutigen, dass ihr davon Gebrauch macht! Rennt Gott die Tür ein, wie es Jesus im Gleichnis vom bittenden Freund ja selbst gesagt hat. Liegt Gott mit eurem Gebet in den Ohren — für unser Land in dieser Krise, für die Menschen, die euch am Herzen liegen, für eure Familien und Freunde, und für euch selbst; damit ihr selbst erfahren und sprechen könnt: „Gelobt sei Gott, der mein Gebet nicht verwirft, noch seine Güte von mir wendet.“ (Ps 66,20, Wochenspruch)
Amen.