Vater unser

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Einleitung

Es soll sich vor vielen Jahren zugetragen haben: Eine Gemeinde hatte sich dazu durchgerungen, eine Evangelisation durchzuführen. Man wollte ja wachsen! Und außerdem hatte Jesus das ja auch so angeordnet.
Und es waren tatsächlich an diesem Abend Gäste gekommen. Ein Bruder aus der Gemeinde wurde gebeten, ein Gebet zu sprechen. Man wusste, dass er das konnte, denn bei Gebetsgemeinschaften betete er ja auch immer. Und er fing an und betete. An diesem Abend schien er überhaupt nicht mehr aufzuhören. Immer weiter betete er. Der Redner des Abends merkte, wie die Leute unruhig wurden. Und so ergriff er die Initiative und sagte: “Während unser Bruder noch weiterbetet, singen wir schon einmal das nächste Lied” … :-)
Ich weiß nicht, ob die Geschichte wahr ist. Manchmal hat man den Eindruck bei Gebetsgemeinschaften, dass es weniger um den geht, mit dem wir reden, als um den, der da redet und um diejenigen, die daneben sitzen und zuhören. Ich habe mich jedenfalls schon selbst dabei ertappt, wie ich überlegt habe, ob ich jetzt nicht beten sollte. Schließlich sollen die Leute doch sehen, dass ich geistlich bin.
Genau dieses Thema hat Jesus in seiner sogenannten Bergpredigt aufgegriffen.
Matthäus 6,5–8 LUT84
Und wenn ihr betet, sollt ihr nicht sein wie die Heuchler, die gern in den Synagogen und an den Straßenecken stehen und beten, damit sie von den Leuten gesehen werden. Wahrlich, ich sage euch: Sie haben ihren Lohn schon gehabt. Wenn du aber betest, so geh in dein Kämmerlein und schließ die Tür zu und bete zu deinem Vater, der im Verborgenen ist; und dein Vater, der in das Verborgene sieht, wird dir’s vergelten. Und wenn ihr betet, sollt ihr nicht viel plappern wie die Heiden; denn sie meinen, sie werden erhört, wenn sie viele Worte machen. Darum sollt ihr ihnen nicht gleichen. Denn euer Vater weiß, was ihr bedürft, bevor ihr ihn bittet.
Heißt das also, dass wir keine Gebetsgemeinschaften machen sollen? Ich glaube, dass wir Jesus da falsch verstehen würden. Hier geht es nicht darum, das öffentliche oder gemeinsame Gebet zu verbieten. Jesus geht es nicht um die Formen unseres Gebetes, sondern um unsere innere Haltung. Wenn du betest, dann tu das nicht, damit andere es sehen. Tu es auch nicht, weil du meinst, Gott mit vielen Worten irgendwie überzeugen zu können. Tu es, weil du mit deinem Vater im Himmel reden willst.
Öffentlich vorgetragene Frömmigkeit war bei den Juden sehr bekannt. Die Pharisäer und Schriftgelehrten ließen sich gerne beim Beten von den Menschen sehen. Und bei den Heiden war es so, dass man beim Gebet die Götter, zu denen man betete, mit möglichst vielen Namen und Titeln ansprach, um sie durch die vielen Worte, die man machte, irgendwie zum Handeln zu bewegen. Die Götter sollten sich sozusagen verpflichtet fühlen, jemand, der so viele Worte an sie richtete, zu erhören.
Diesen beiden Verhaltensweisen erteilt Jesus hier eine klare Absage. Wie aber sollen wir dann beten? Diese Frage behandelt Jesus jetzt. “Darum sollt ihr so beten”, sagt er und lehrt uns dann das sogenannte “Vaterunser”. Bevor wir uns diesem Gebet von Jesus jetzt zuwenden und es uns genauer anschauen, will ich aber noch ein wenig Hintergrundinformation dazu geben.
Das “Vaterunser” wird uns in Mat. 6,9-13 überliefert. Aber wir finden es in etwas abgewandelter Form auch in Luk. 11,1-4. Die Situation, in der uns dieses Gebet im Lukasevangelium überliefert wird, ist eine völlig andere. Es ist nicht während der Bergpredigt, und Jesus spricht auch nicht vorher oder hinterher darüber, welche Formen des Gebetes richtig oder falsch sind. Jesus selbst ist an einem ruhigen Ort und betet. Offenbar haben seine Jünger ihn dabei beobachtet und sind von Jesus und seinem Gebetsleben fasziniert. Sie warten, bis er fertig ist und bitten ihn dann: “Herr, lehre uns beten, wie auch Johannes seine Jünger lehrte” (Lk. 11,1b). Und das tut Jesus. Er sagt ihnen: “Wenn ihr betet, so sprecht:”. Und dann lehrt er sie das Vaterunser.
Wie also? Hat Jesus das Vaterunser in der Bergpredigt gelehrt, oder später in einem ganz anderen Zusammenhang? Ich glaube, dass es wirklich zwei unterschiedliche Ereignisse sind. Vielleicht hat er seinen Jüngern das, was und wie sie beten sollen, noch öfter gesagt. Wenn ich daran denke, wie oft ich als Lehrer das wiederhole, was ich sage, halte ich das auch bei Jesus für sehr wahrscheinlich. Da fällt mir immer der alte lateinische Spruch ein: “repetitio mater studiorum est” - Die Wiederholung ist die Mutter des Lernens.
Wenn es sich um zwei unterschiedliche Situationen handelt, ist auch klar, warum die beiden Versionen des Vaterunsers zwar über weite Strecken gleich sind, es aber doch Unterschiede gibt. So ist die Version im Lukasevangelium kürzer und es werden einige Bitten weggelassen.
Dass es dann in der Überlieferung des biblischen Textes immer wieder Versuche gab, die beiden Versionen aneinander anzugleichen, ist sicher verständlich. Es gibt also vor allem vom Lukasevangelium viele griechische Abschriften in den späteren Jahrhunderten, in denen wir Ergänzungen finden, die aus dem Matthäusevangelium stammen. Und das ist natürlich nicht verkehrt, denn schließlich hat Jesus ja das, was wir im Matthäusevangelium lesen, wirklich gesagt. Ich werde hin und wieder etwas auf die Unterschiede zwischen Matthäus und Lukas eingehen.
Zwei Vorbemerkungen noch: 1. Das Vaterunser schließt im Matthäusevangelium mit den Worten “Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.” In vielen Bibelübersetzungen finden wir diesen Vers zumindest in Klammern. In anderen fehlt er sogar ganz. Der Grund liegt darin, dass er in den alten griechischen Handschriften nicht steht. Er wurde offensichtlich später ergänzt. Vermutlich geschah das, als man begann, das Vaterunser in Gemeinden gemeinsam zu beten. Man ergänzte dabei dieses Gebet durch Aussagen, die man aus dem Alten Testament gewonnen hatte, und die wir auch genau so in jüdischen Gebeten finden. Selbstverständlich ist das, was da gesagt wird, richtig. Und es ist natürlich auch durchaus möglich, dass Jesus so oder so ähnlich gebetet hat. Es ist daher überhaupt nicht problematisch, wenn wir es heute als Teil des Vaterunsers beten. Es war aber vermutlich nicht Teil dessen, was Jesus ursprünglich seine Jünger gelehrt hat.
2. Jesus sagt ja: “Darum sollt ihr so beten”. Damit ist zweierlei gemeint. Das Vaterunser ist natürlich ein Gebet, dass wir mit genau diesen Worten beten dürfen. Es kann uns Hilfestellung und Richtschnur sein, wenn uns die Worte fehlen. Und es ist ein kraftvolles Bekenntnis, wenn wir es in unseren Gottesdiensten gemeinsam beten. Aber viel wichtiger ist das Andere. Jesus lehrt es uns ja, weil er will, dass wir nicht die Formen, sondern den Inhalt in den Mittelpunkt stellen. Es geht also auch nicht nur darum, dieses Gebet so zu wiederholen, wie Jesus es gelehrt hat. Viel wichtiger ist, dass wir das, was wir da beten, auch wirklich meinen. Und dass wir uns in unseren eigenen Gebeten daran orientieren. Jesus spricht ja im Kontext davon, dass wir beim Beten in unser Zimmer gehen sollen und dann dort im Verborgenen zu unserem Vater im Himmel reden. Das Vaterunser ist also einerseits ein Gebet, das wir nachbeten dürfen und sollen und andererseits ein Gebet, an dem wir für unser eigenes, persönliches Beten lernen sollen.
Schauen wir uns jetzt dieses Gebet etwas Genauer an.

1. Unser Vater

Matthäus 6,9–10 LUT84
Darum sollt ihr so beten: Unser Vater im Himmel! Dein Name werde geheiligt. Dein Reich komme. Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden.
Das Vaterunser beginnt damit, dass Jesus sich und uns auf unseren Vater im Himmel ausrichtet. Beim Gebet geht es zuallererst um Gott, nicht um uns. Wie oft beginnen und enden meine Gebete bei mir selbst. Bei meinen Bitten und Anliegen. Jesus dagegen fordert uns auf, Gott, sein Reich und seinen Willen in den Mittelpunkt zu stellen.
Dabei ist zunächst einmal zu beachten, dass Jesus die Anrede “Vater” benutzt. Das war für die Jünger nicht so selbstverständlich. Im Alten Testament wird Gott als Vater beschrieben. Allerdings meist nicht im persönlichen Sinn. Gott ist der Vater Israels. Wir finden auch Stellen, an denen er der Vater des Königs genannt wird. Dass er aber auch der Vater des einzelnen Israeliten ist, finden wir im AT eigentlich nicht. Jesus bringt uns hier eine viel nähere, vertrautere Form des Verhältnisses zu Gott.
Interessant ist, dass im Lukasevangelium in den älteren Handschriften nur “Vater” steht, nicht “Unser Vater, der du bist im Himmel.” Hier war der Kontext ja, dass Jesus seine Jünger lehren sollte so zu beten, wie er selbst auch betete. Und da wird es irgendwie noch persönlicher. Dass wir Gott im Himmel “Vater” nennen dürfen, das hat Jesus uns gelehrt. Und er hat es auch in noch viel tieferer Weise möglich gemacht, als das damals für die Juden galt. Denn wer heute Jesus in sein Leben einlädt, wer durch Jesus neues Leben erhält, der wird “von neuem geboren”, wie Jesus damals dem Nikodemus erklärt hat. Das bedeutet, dass der Heilige Geist in uns kommt und wir innerlich erneuert werden. Wir werden Kinder des lebendigen Gottes. Das ist noch einmal eine ganz andere Qualität, als es damals für die Jünger galt. Noch viel mehr als sie haben wir dieses ungeheure Vorrecht, Gott als “Vater” ansprechen zu dürfen.
Aber Jesus bleibt dabei nicht stehen. Er macht deutlich, dass das “Vater-sein” Gottes für uns auch Konsequenzen hat. Wenn Gott unser Vater im Himmel ist, dann muss es für uns wichtig sein, was er sagt. Dann muss sein Wille für uns gelten. “Dein Name werde geheiligt” - das bedeutet: Gott soll groß werden. Der “Name” steht in der damaligen Kultur für die Persönlichkeit. Als Gott Mose seinen Namen offenbart, da geht es nicht darum zu sagen, wie er heißt. Es geht darum zu zeigen, was dieser Name Gottes über sein Wesen aussagt. Dass er ein Gott ist, der zu seinen Verheißungen steht und sie wahr macht. Das bedeutet “Jahwe” - Er ist. Gott selbst erklärt das ja mit den Worten “Ich bin, der ich bin”. Gott hatte Israel versprochen, es in das Land Kanaan zu führen und ihm dieses Land zu geben. Und das würde er jetzt auch tun. Gott ist der, der er ist. Er hält, was er verspricht.
“Dein Name werde geheiligt” heißt daher: Ich möchte durch alles, was ich tue, Gottes Wesen groß machen. Ich möchte, dass alle Menschen, die mir begegnen, in mir und durch mich etwas von Gottes Größe und Heiligkeit sehen. Ich möchte, dass Gottes Herrschaft nicht nur in mir, sondern überall auf dieser Erde geschieht: “Dein Reich komme”.
Das “Reich”, damit ist nicht ein Gebiet gemeint oder ein Staat. Dieses griechische Wort beschreibt viel mehr den Bereich, in dem der König herrscht. Es wäre vielleicht besser mit “Deine Herrschaft komme” zu übersetzen. Denn das ist eigentlich gemeint. Ich möchte, dass Gott wirklich Herr ist. In mir und überall. Der Satz “Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden” ist eigentlich eine Erläuterung dazu. Interessanterweise fehlt er im Lukasevangelium. “Dein Reich komme” sagt das ja schon aus. Das Reich Gottes, das ist überall da, wo Gottes Wille geschieht. Heute ist das im Himmel schon uneingeschränkt so. Und auf dieser Erde überall dort, wo Menschen sich für Jesus entscheiden und wo sie ein Leben führen, in dem Gott regiert. Eines Tages wird Gott das auch in Vollkommenheit umsetzen. Aber wenn wir beten “Dein Reich komme”, dann sollten wir nicht nur auf dieses zukünftige Reich Gottes schauen. Es geht vielmehr darum, schon hier und heute Gott herrschen zu lassen. Und dadurch seinen Namen groß zu machen, seinen Namen zu heiligen.
Nach diesen Bitten, in denen es um Gott und seine Herrschaft geht, wendet sich Jesus jetzt unseren Anliegen zu:

2. Unser tägliches Brot

Matthäus 6,11 LUT84
Unser tägliches Brot gib uns heute.
Im Lukasevangelium finden wir diese Bitte leicht abgewandelt: “Unser tägliches Brot gib uns Tag für Tag.” Beide Versionen meinen allerdings dasselbe. Die meisten Menschen in der damaligen Zeit arbeiteten als Tagelöhner. Jesus erzählt ja davon in seinen Gleichnissen. Morgens ging man an eine Sammelstelle, meist in einem der Stadttore. Dort wartete man auf jemand, der Arbeiter suchte. Abends erhielt man dann den ausgemachten Lohn und konnte für sich und seine Familie Brot und was man sonst zur Versorgung brauchte kaufen. Das ist mit den Worten “tägliches Brot” gemeint. Wörtliches heißt es eigentlich: “Unsere lebensnotwendiges Brot”.
Das, was hier mit “Brot” gemeint ist, war natürlich nicht nur das Brot selbst. Es war alles, was für das Leben notwendig war. Das alles wird hier unter “Brot” zusammengefasst. Nicht nur Lebensmittel gehörten dazu. Auch ein Dach über dem Kopf, Kleidung und die nötigen Werkzeuge und Geräte waren damit gemeint. “Gib uns all das, was wir zum Leben benötigen” - das ist die Bedeutung dieser Bitte. Natürlich dürfen wir Gott auch um Dinge bitten, die wir nicht dringen brauchen. Aber hier im Vaterunser geht es um das, was wir brauchen, um leben zu können.
Für den Juden, der sich im Alten Testament auskannte, gab es aber noch einen anderen Bezug. Damals, als Gott sein Volk aus Ägypten herausgeführt hatte, gab er ihnen in der Wüste an jedem Tag Brot - Manna. Dieses Brot war das, was sie an jedem Tag zur Versorgung benötigten. Aufheben konnte man es nicht. Am nächsten Tag war es schlecht. Nur am Freitag konnte man für den Sabbat mitsammeln. Gott versorgte sein Volk Tag für Tag. Auch damals übrigens umfasste diese Versorgung nicht nur das Manna. Gott sorgte auch dafür, dass die Kleidung und die Schuhe der Israeliten in den 40 Jahren der Wüstenwanderung nicht verschlissen. Gott sorgte für sein Volk. Umfassend.
Nach dieser Bitte um Versorung der täglichen Dinge, die für den Lebensunterhalt notwendig sind, geht es in der nächsten Bitte um die geistliche Versorgung - um die Vergebung unserer Schuld:

3. Unsere Schuld

Matthäus 6,12 LUT84
Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.
Im griechischen Text wird hier für “Schuld” ein Wort benutzt, dass ganz allgemein zu verstehen ist. Schuld entsteht, wenn man jemand gegenüber nicht das tut, ihm nicht das gibt, was ihm zusteht. Man bleibt ihm etwas schuldig. Im Lukasevangelium verwendet Jesus stattdessen ein Wort, das eher mit “Sünde” zu übersetzen ist. Inhaltlich ist das allerdings das gleiche. Wir geben Gott nicht das, was ihm zusteht, werden ihm gegenüber schuldig.
Und mit dieser Schuld dürfen wir zu Gott kommen. Wir dürfen ihn darum bitten, dass er sie uns vergibt!
An dieser Stelle muss ich allerdings noch einmal etwas ausholen. Denn als Jesus diese Worte seinen Jüngern gelehrt hat, war ja noch die Zeit des Alten Testamentes. Der neue Bund, das neue Testament wird ja erst durch Kreuz und Auferstehung geschlossen. Und dort, am Kreuz, ist ja gerade im Blick auf die Vergebung von Schuld etwas ganz Entscheidendes geschehen. Jesus starb, um für unsere Sünde zu bezahlen. Jeder, der dieses Opfer annimmt, erlebt diese Vergebung. Und diese Vergebung gilt für alle Schuld meiner Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. In diesem Sinne müssen wir also eigentlich nicht mehr beten “Vergib uns unsere Schuld”.
Sollen wir also das Vaterunser ändern? Ich denke nicht. Denn unsere Sünde ist zwar vergeben, aber wenn wir sündigen, belastet das die Beziehung zu unserem Vater im Himmel. Wir hören nicht auf, seine Kinder zu sein. Aber es ist wie damals im Garten Eden, als Adam und Eva sich vor Gott versteckten. Sünde belastet unsere Beziehung zu Gott. Ich musste daran denken, wie ich früher als kleines Kind oft nicht einschlafen konnte, wenn ich etwas getan hatte, was nicht in Ordnung war. Ich bin dann meist aufgestanden und zu meinen Eltern gegangen und habe “gebeichtet”. Danach konnte ich dann gut schlafen.
Ich habe natürlich nicht aufgehört, Kind meiner Eltern zu sein. Aber es stand etwas zwischen uns. So ähnlich ist das auch mit uns und Gott. Wenn Sünde da ist, dann belastet das unsere Beziehung. Es stört das Verhältnis. Diese Sünde ist vergeben durch das Opfer von Jesus am Kreuz. Aber dennoch ist es gut und richtig, sie Gott zu nennen und ihm zu sagen, dass es uns leid tut. Dadurch wird unser Verhältnis bereinigt.
Und dann sollen wir hingehen und genau die gleiche Vergebung auch einander gewähren: “Wie auch wir vergeben unseren Schuldigern”. Dass Gott uns bedingungslos vergeben hat, als wir das Opfer von Jesus angenommen haben, das soll uns motivieren, nun auch selbst zu vergeben. Ebenso bedingungslos. Das hilft übrigens auch ganz praktisch. Wenn du denkst, dass du nicht vergeben kannst, weil der oder die andere dich so sehr verletzt hast - denke daran, was Gott schon alles vergeben hat. Wie oft du ihn schon verletzt hast - und wie er immer wieder gnädig und barmherzig sich dir zugewandt hat.
Natürlich wäre es gut, wenn wir gar nicht erst schuldig werden. Genau darum geht es in der nächsten Bitte:

4. Unsere Versuchung

Matthäus 6,13 (LUT84)
Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen.
Diese Bitte des Vaterunsers hat schon für viele Fragen gesorgt. Auf der einen Seite steht die Aussage, dass Gott niemand versucht (Jak. 1,13). Und auf der anderen Seite wissen wir ja, dass Versuchung, die bestanden wurde, zur Bewährung führt und durchaus positiv sein kann. Und in der Bibel lesen wir ja davon, dass Gott Menschen versucht hat, z.B. einen Abraham.
Was also meint Jesus hier? Zunächst einmal sollte klar sein, dass Versuchung nichts ist, was wir uns wünschen würden - oder wünschen sollten. Deshalb dürfen wir natürlich auch diesen Wunsch, nicht in Versuchung zu kommen, Gott sagen. Wenn diese Bitte dann allerdings fortfährt “sondern erlöse uns von dem Bösen”, dann macht sie deutlich, worum es hier geht. Im Griechischen ist das wirklich bestimmt: “der Böse”. Ich denke, hier geht es nicht um “das Böse”, sondern um den, der uns zum Bösen versuchen will, der möchte, dass wir fallen: der Teufel. Im Lukasevangelium fehlt dieser Nachsatz, aber ich glaube, dass auch dort die Bedeutung der Bitte die Gleiche ist.
“Bringe uns nicht hinein in die Versuchung”, so könnte man diese Bitte übersetzen. Ich finde darin übrigens noch einen sehr tröstlichen Gedanken. Selbst wenn wir in Versuchung kommen, selbst wenn der Böse und zu Fall bringen will, steht immer Gott, unser Vater dahinter. So, wie bei Hiob der Versucher von Gott die Erlaubnis bekommen muss und wie Gott ihm die Grenzen seiner Versuchung steckt, so gilt das auch bei mir. Gott ist immer da und passt auf. Alles, was mir geschieht, muss an ihm vorbei. Und Gott führt uns nie in Versuchung, damit wir darin fallen. Er lässt daher auch keine Versuchung zu, die so groß ist, dass wir ihr nicht wiederstehen können. Das meint übrigens Jakobus, wenn er sagt, dass Gott niemand versucht. Gott will uns nie durch eine Versuchung zu Fall bringen. Er will, dass wir durch die Versuchung siegreich hindurch gehen und es dadurch lernen, ihm zu vertrauen und bei ihm zu bleiben. Versuchungen haben daher die gleiche Funktion wie Prüfungen oder Tests, die wir in der Schule schreiben. Wir sollen dadurch lernen und gleichzeitig auch erkennen, wo wir selbst gerade geistlich stehen.
Auf der anderen Seite müssen wir nun aber keine “Leidenstheologie” oder gar “Versuchungstheologie” entwickeln. Auch wenn es oft die Versuchungen und das Leiden sind, durch die wir geistlich wachsen, dürfen wir Gott bitten: “Führe uns nicht in Versuchungen hinein. Bewahre uns davor, durch den Bösen zu Fall gebracht zu werden.”
Und Gott kann das auch wirklich tun. Denn Gott ist es ja, der alles in seiner Hand hält. Er ist es, der schon heute die Herrschaft hat, auch wenn er diese Herrschaft noch nicht in unserer Welt und Zeit sichtbar umgesetzt hat. In diesem Sinn ist die abschließende Doxologie, das Lob dieses großen Gottes, auch dann, wenn sie wohl nicht ursprünglich zu diesem Gebet gehörte und im Lukasevangelium komplett fehlt, trotzdem absolut richtig:

5. Gottes Herrlichkeit

Matthäus 6,13 (LUT84)
[Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.]
Es besteht sicher kein Zweifel daran, dass diese Worte zu 100% wahr sind. Und sie passen auch sehr gut an das Ende dieses Gebetes. Sie gehen wohl zurück auf das Gebet des David, das dieser betete, nachdem das Volk viele freiwillige Spenden für den Bau dem Tempels zusammengetragen hatte. Wir lesen dort:
1. Chronik 29,11–13 (LUT84)
Dein, Herr, ist die Majestät und Gewalt, Herrlichkeit, Sieg und Hoheit. Denn alles, was im Himmel und auf Erden ist, das ist dein. Dein, Herr, ist das Reich, und du bist erhöht zum Haupt über alles. Reichtum und Ehre kommt von dir, du herrschst über alles. In deiner Hand steht Kraft und Macht, in deiner Hand steht es, jedermann groß und stark zu machen. Nun, unser Gott, wir danken dir und rühmen deinen herrlichen Namen.
Viele Aspekte des Vaterunsers sind in diesem Gebet schon enthalten. Nicht nur, dass Gott das Reich, die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit gehört. Auch unsere Versorung kommt von ihm (Reichtum und Ehre kommt von dir) und es geht darum, dass wir seinen “herrlichen Namen” rühmen. Ich finde es sehr passend, dass man in späterer Zeit dem Vaterunser diesen Schluss gegeben hat. Vor allem, als das Vaterunser immer mehr zu einem Gebet wurde, das man auch gemeinsam im Gottesdienst betete. Denn dieser Schluss des Gebetes macht noch einmal ganz deutlich, was schon am Anfang gesagt wurde: Es geht um Gott, um sein Reich, um seinen Namen und seinen Willen.
Ich denke es ist passend, wenn wir jetzt gemeinsam am Ende dieses Gottesdienstes aufstehen und das Vaterunser miteinander beten.
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