Erich Fromms Definition von Religion
Erich Fromms Definition von Religion:
"Religion nenne ich jedes von einer Gruppe geteilte System des Denkens und Handelns, das dem Einzelnen einen Rahmen der Orientierung und ein Objekt der Hingabe bietet."
\\
Zur Klarstellung: Wie ich den Begriff »religiös« hier verwende, bezeichnet er weder ein System, das notwendigerweise mit einem Gottesbegriff oder mit Idolen operiert noch gar ein System, das den Anspruch erhebt, eine Religion zu sein, sondern jedes von einer Gruppe geteilte System des Denkens und Handelns, das dem einzelnen einen Rahmen der Orientierung und ein Objekt der Verehrung bietet. In diesem weitgefaßten Sinn ist in der Tat keine Gesellschaft der Vergangenheit, der Gegenwart und selbst der Zukunft vorstellbar, die nicht »religiös« wäre.
Diese Definition von »religiös« sagt nichts über den spezifischen Inhalt aus. Objekt der Verehrung können Tiere oder Bäume sein, Idole aus Gold oder Holz, ein unsichtbarer Gott, ein Heiliger oder ein diabolischer Führer; die Vorfahren, die Nation, die Klasse oder Partei, Geld oder Erfolg. Die jeweilige Religion kann den Hang zur Destruktivität fördern oder die Bereitschaft zur Liebe, die Herrschsucht oder die Solidarität; sie kann die Entfaltung der seelischen Kräfte begünstigen oder lahmen. Die Anhänger einer bestimmten Überzeugung mögen ihr System als ein religiöses ansehen, das sich grundsätzlich von den Ideologien des profanen Bereichs unterscheidet, oder sie mögen glauben, keine Religion zu haben und ihre Hingabe an bestimmte angeblich diesseitige Ziele wie Macht, Geld oder Erfolg einzig und allein mit praktischen Notwendigkeiten erklären. Die Frage ist jedoch nicht: Religion oder nicht?, sondern vielmehr: Welche Art von Religion? Fördert sie die menschliche Entwicklung, die Entfaltung spezifisch menschlicher Kräfte, oder lahmt sie das individuelle Wachstum?
Eine bestimmte Religion ist, sofern es ihr gelingt, das menschliche Verhalten zu motivieren, mehr als eine Sammlung von Doktrinen und Überzeugungen; sie ist in einer spezifischen Charakterstruktur des Individuums und, falls sie von einer Gruppe geteilt wird, in deren sozialem Charakter verwurzelt. Unsere religiöse Grundhaltung ist somit als Aspekt unserer Charakterstruktur anzusehen, denn wir sind, was wir verehren, und was wir verehren, das motiviert unser Verhalten. Häufig ist sich der einzelne jedoch des wirklichen Gegenstands seiner persönlichen Verehrung gar nicht bewußt und verwechselt seinen »offiziellen« Glauben mit seiner wahren, wenn auch geheimen Religion. Wenn ein Mann beispielsweise die Macht verehrt, sich aber offiziell zu einer Religion der Liebe bekennt, dann ist die Religion der Macht sein geheimer Glaube, während seine sogenannte offizielle Religion, beispielsweise das Christentum, nichts weiter als eine Ideologie für ihn ist.
Source: Erich Fromm, Haben oder sein im Abschnitt 3. Teil: Der neue Mensch und die neue Gesellschaft Sozialer Charakter und "religiöse" Bedürfnisse.